Sieht dem Enjambement ins Auge: Ben Lerner, Foto: Tim Knox Bransch, Suhrkamp Verlag

Philosophie in Bewegung

Autor Ben Lerner ist manchmal von Lyrik genervt — und verteidigt sie deshalb

»Ich mag sie auch nicht.« Fünf Wörter. die für den Autor Ben Lerner besondere sind. Der 1979 in Topeka, Kansas, geborene Lyriker und Romancier baut auf diesen fünf Wörtern einen ganzen Essay auf: »Warum hassen wir die Lyrik?« Polemik? Anmaßung? Koketterie?

Nein, Lerners 100 Seiten lange Abhandlung ist eine Abrechnung mit der Lyrik als Kunstform — und zeigt, warum so viele Menschen Probleme mit ihr haben. Einer Gerichtsverhandlung ähnlich, werden Expert*innen zu Rate gezogen, Zeugen vernommen und Beweise ausgewertet. »Ich mag sie auch nicht« wird dabei sowohl zur Argumentation der Anklage wie der Verteidigung. Gerade die Widerspenstigkeit macht die Lyrik doch zu einem erhaltenswerten Schatz, doch schreckt sie auch ab. Wie soll man also umgehen mit ihr, wo sie im Alltag vornehmlich in ihrer schrillen, ungelenken Form als Geburtstagsgedicht oder Büttenrede auftaucht? Das Verdikt bleibt schließlich unklar. Dafür kann man einem Philosophen beim eleganten Denken zusehen. Bedachtsam und hellsichtig sortiert Lerner seine Gedanken und Erinnerungen — und setzt sie in Bewegung.

Dass dieser Essay so viel Spaß beim Lesen macht, das liegt natürlich auch an der großen Kunst und dem unbedingten Formwillen, die jedem Satz inhärent sind.

So vergisst man zu keinem Zeitpunkt, dass Ben Lerner selbst Lyriker ist. Soeben ist sein 400 Seiten starker Band»No Art« erschienen. In diesem ist nicht nur der namensgebende 24-Zeiler versammelt, sondern auch die drei umfangreichen Bände »Die Lichtenbergfiguren«, »Scherwinkel« und »Mittlerer freier Weg«. Man kann die vorgeführte Kunstfertigkeit nicht anders als spektakulär nennen. Das gilt nicht nur für den englischen Originaltext, sondern auch für die außerordentliche Erstübersetzung von Steffen Popp, an der dazu noch die Lyrikerin Monika Rinck mitgearbeitet hat. Das hat sich wahrlich gelohnt.

»No Art« ist eine Feier für Fans der Lyrik, die an den dekonstruierten Sonetten und prächtigen Enjambements ihre helle Freude haben werden — aber nicht nur. Auch für (Wieder-)Einsteiger*innen gibt es hier allerlei Angebote, um am Ende zu sagen: »Ich mag sie auch nicht — manchmal aber doch.«

Ben Lerner: »Warum hassen wir die Lyrik?« Suhrkamp, 100 Seiten, 14 Euro; »No Art«, Suhrkamp, 512 Seiten, 34 Euro