Luca Marinelli: Als junger Autor zwischen Solidarität und Individualismus

Martin Eden

Pietro Marcellos Jack London-Verfilmung reflektiert den künstlerischen Zwiespalt

Pietro Marcello weist in Interviews gerne darauf hin, dass die fiktive Titelfigur von »Martin Eden« als ein frühes »Opfer der Kultur­industrie« zu betrachten sei. Nach Ansicht des italienischen Regisseurs, der bei diesem Spielfilm als Drehbuchautor und Produzent firmiert, galt dieselbe Feststellung auch für Jack London. Dessen gleichnamiger, autobio­grafisch angehauchter Roman wird jedenfalls oft als eine Reflexion des Zwiespalts verstanden, den der US-amerikanische Schrift­steller angesichts der eigenen Berühmtheit als Bestsellerautor empfand.

Mit seinem Ko-Autor Maurizio Braucci hat Marcello die Handlung des 1909 erschienenen Buches aus Kalifornien nach Italien verlegt. Besonders reizvoll ist, welch Unbestimmtheit sie der Handlungszeit verliehen haben: Kostüme und Ausstattung wecken anfangs den Eindruck, als befände man sich im frühen 20. Jahrhundert. Doch dann fallen Details auf, die Bezüge zur Zwischen- und Nachkriegszeit herstellen. Letzten Endes ist der Stoff als exemplarisch fürs ganze Jahrhundert aufzufassen.

Das ist bezeichnend für die Ambitionen, die Marcello mit dieser, wie er selbst sagt, »sehr freien Adaption« verbindet: »Wir wollten einen politischen Film über das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart machen.« Den Aufstieg und Fall des literarischen Selfmade-Man Martin Eden deutet der 44-jährige Italiener als Ergebnis eines verabsolutierten Individualismus, eines vorweggenommenen neoliberalen Denkens. Dabei weist seine Auseinandersetzung mit dem Thema eine faszinierende Widersprüchlichkeit auf, die sich wohl nicht zuletzt aus den politischen Sympathien des Filmemachers ergibt. Jedenfalls ist es kein Zufall, dass Archivbilder des italienischen Anarchisten Errico Malatesta im Vorspann einen prominenten Platz einnehmen.

Die mäandernde Handlung wird indes von einer Zufallsbegegnung Martins (Luca Marinelli) mit der adligen Studentin Elena (Jessica Cressy) angestoßen, die ihn in ihrem Elternhaus mit Kunst und Literatur bekannt macht. Als Schlüssel zu dieser verlockenden Welt des Reichtums und der Kultur empfiehlt sie dem ungehobelten Seemann ganz treuherzig, disziplinierte Bildungsanstrengungen zu unternehmen. Das liefert einen subtilen Bezug zu unserer Gegenwart, in der Bildung bekanntlich als bevorzugtes — und womöglich einziges — Mittel zum Ausgleich sozialer Unterschiede gilt. Bezeichnenderweise wird dem verliebten Habenichts die Wiederaufnahme des Schulbesuchs verwehrt, woraufhin er jedes Buch liest, das ihm in die Hände fällt. Dabei entwickelt er eine fiebrige Neugier, die der Film treffend mit agiler Kameraarbeit und einer assoziativen Montage spiegelt, die farbsatte 16-mm-Bilder mit Archivmaterial unterschiedlichsten Ursprungs mischt.

Unter diesen Vorzeichen mag man nachvollziehen, dass Martin seinen ersten schriftstellerischen Erfolg ganz individualistisch deutet, zumal er zwischenzeitlich den liberalen Sozialdarwinisten Herbert Spencer zu seinem Lieblingsphilosophen gewählt hat. Die Voraussetzung seines Erfolgs ist, dass eine leidgeprüfte Witwe, Maria (Carmen Pommella), die sich und zwei Kinder mit Heimarbeit über Wasser hält, dem streunenden Jungautor nach einer Begegnung im Zug in ihrer ärmlichen Vorstadtwohnung Unterschlupf gewährt. Dabei verleihen die Inszenierung und Pommellas Spiel diesem spontanen Akt freundlicher Zuneigung eine wunderbare Mehrdeutigkeit: Dass Maria Martin unter ihre Fittiche nimmt, lässt sich mit Klassensolidarität, Nächstenliebe, mütterlichen Gefühlen oder heimlichem Be­gehren erklären.

Wenn der Protagonist dann berühmt und reich geworden ist, wirken seine Handlungen und Aussagen — nach einem längeren Zeitsprung — rätselhaft. Martins Widerwille gegen den Bestsellerbetrieb gewinnt eine zusätzliche reizvolle Note: Mit feinen, kleinen, stets irgendwie dokumentarischen Filmen schien der Filmemacher sich bisher selbst der Kulturindustrie verweigern zu wollen.

I/F/D 2019, R: Pietro Marcello
D: Luca Marinelli, Jessica Cressy, Vincenzo Nemolato
129 Min., Start: 29.7.