»Mister Universum«: Bankdrücken für freien Eintritt

Auch mal ins Fitnessstudio

Das Kölner Kollektiv »Dokomotive« geht neue Wege, um Dokumentarfilme zu drehen und zu zeigen

»Wir wollen eine Community von Leuten aufbauen, die an Dokumentar­filmen interessiert sind. So wie ein Label«, sagt Filmemacher Stefan Höh. Das Kollektiv »Dokomotive« als Marke, bei der die Anhänger darauf vertrauen können, dass dahinter engagierte und künstlerisch anspruchsvolle Dokumentar-Filmkultur steckt. Dies sei das Ziel. Und um die Wertschätzung für den Dokumentarfilm zu beleben, lässt sich Dokomotive einiges einfallen.

Angefangen hat alles um 2016 als sich eine Gruppe von Filmemacher*innen regelmäßig trifft, um sich über Projekte auszutauschen, voneinander zu lernen und »solidarisch Unterstützung zu leisten«, wie Stefan Höh sagt. Was das Kollektiv stört, sei die Verwertung cineastischer Dokumentarfilme. Werke, die sie zeitintensiv und mit viel Engagement »und Herzblut« geplant und umgesetzt haben, laufen oft nur auf Festivals, bloß kurz in Programm­kinos oder spätnachts im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Selbst Filme, die Preise gewinnen, werden deshalb teilweise nur von höchstens hundert Zuschauern gesehen. »Wir haben uns gefragt: Wie kann man das innovativ angehen und dazu die digitalen Möglichkeiten nutzen?«, sagt Höh. Als Folge startete im Januar 2018 die Dokomotive-Plattform: Dort bieten die Regisseur*innen seitdem ihre Filme als Stream oder Video on demand an. Zusätzlich erzählen die Filmemacher*innen in einem Video mehr über ihr Thema, ihre Herangehensweise und Arbeit. Diese Clips folgen keinem Schema, sondern dem Stil der oder des Filmenden. »Darauf werden wir immer wieder angesprochen, das kommt gut an«, so Höh.

Ein Highlight sind für Höh die »Special Screenings«: Jeder Film wird an einem zum Thema passenden Ort vor Publikum gezeigt. »Louisa«, in dem Filmemacherin Katharina Pethke schildert, wie ihre Schwester damit umgeht, dass sie ihren Gehörsinn verliert, läuft in einem schalltoten Raum der TH Deutz. Fast ohne Hall hätte sich dort alles dumpf und seltsam angehört, sagt Höh. »Es ist ein verun­sicherndes Gefühl. Man vertraut seinem Gehör nicht mehr, was gut zum Film passt.«

»Sofias Last Ambulanz«, der sich in einem Krankenwagen der bulgarischen Hauptstadt Sofia abspielt, wird in einem mietbaren Klinikbus, einer fahrbaren OP-Station, aufgeführt. Und für seinen eigenen mit Co-Autorin Berta Valin Escofet gedrehten Dokumentarfilm »Mister Universum« über einen gealterten Bodybuilder hat Höh ein Fitnessstudio »wie aus den 90ern« gefunden. Für die Filmvorführung haben sie die Hardcore-Challenge des Studios abgewandelt: Nur wer 100 Kilogramm beim Bankdrücken stemmt, kann Mitglied im Club werden. Am Tag der Aufführung gab es dafür freien Eintritt. Dank solcher Events und dank der Plattform selbst ist es Dokomotive laut Höh gelungen, eine konstante Zahl von Followern und Nutzer*innen zu gewinnen. Wirtschaftlich rechne es sich zumindest so, dass die sieben Dokomotive-Mitglieder, die fest für die Plattform arbeiten, auf Nebenjob-Niveau bezahlt würden — und die Filmemacher*innen die Hälfte der Erlöse aus den Geschäften mit Streaming Video on demand erhielten. Ein großer Teil der Arbeit sei aber ehrenamtlich. Wichtig sei es Dokomotive nach wie vor, Interesse am künstlerischen Dokumentarfilm zu wecken, gerade bei jungen Leuten. »Wir sind kein Start-up für Filmvertrieb, sondern leidenschaftliche Filmkulturaktivisten.« Deshalb ist Höh selbst auf Twitch und YouTube aktiv und verweist dort auf Dokomotive. »Kino ist auch unser Sehnsuchtsort, aber man kann junge Leute nicht mit Zwang in die Kinos ziehen, darum bespielen wir die Plattformen, wo sie sich aufhalten.«

Darüber hinaus hat sich im Kollektiv eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich für Filmbildung stark macht. Mit Partnern wie der Imhoff-Stiftung veranstalten sie Vorführungen vor Schulklassen und Workshops in Schulen.

Corona habe das Kollektiv und seine Projekte vor Probleme gestellt, erzählt Höh. Die vielen kulturellen Angebote, die plötzlich ins Internet ausgewichen seien, hätten sich »gegenseitig kannibalisiert«, so Höh. »Zu viel Content ist nicht gut. Auch nicht, Filme umsonst hochzuladen. Sie haben einen Wert und sind nicht für den Massenkonsum gedacht. Wer einen Film sehen will, sollte sich Zeit nehmen und ihn bewusst schauen.« Am schwersten getroffen hat sie Höh zufolge, dass die Special Screenings nicht mehr möglich waren. Besonders bitter für Dokomotive-Mitglieds Markus Lenz. Sein Dokumentarfilm »El cacique« über einen alten Mann auf einer Karibikinsel und seinen einäugigen Kampfhahn sollte auf einer deutsch­land­weiten Tour in Tropenhäusern gezeigt werden. Sie musste abgesagt werden. Eine Zeit lang hat deshalb auch die Plattform pausiert, aber seit März wird wieder regelmäßig alle ein bis zwei Monate ein neuer Dokumentarfilm online gestellt. Für 2021 hat Dokumotive fünf bis sechs Filme ausgewählt und hofft, dass Special Screenings dann wieder möglich sein werden und die »El cacique«-Tour im Herbst nachgeholt werden kann. Für die Zukunft wünscht sich Höh weitere »innovative Kooperationen« — mit Filmverleihen, Kinos, Stiftungen, Fernsehsendern. »Wir wollen außerdem, dass unsere Idee von Filmkultur über Köln und NRW hinaus in die Welt getragen wird.« Beispielsweise über ein Lizenz-System. »Wir stellen die Marke,

das Konzept und die Produkte zur Verfügung, helfen bei der Auswahl der Filme — und die Macher vor Ort setzen es nach ihren Wünschen um.« Mitglieder von Dokomotive knüpfen zudem Kontakte zu ähn­lichen Kollektiven aus anderen Ländern. »Aber das ist noch Zukunftsmusik.«

Weitere Infos: plattform.dokomotive.com