Gottfried Böhm (1920–2021), Foto: Elke Wetzig

Mit 99 noch auf dem Gerüst

Der Architekt Gottfried Böhm ist gestorben. Er hat Köln geprägt wie kein zweiter. Ein Nachruf von Jörg Beste vom Architektur Forum Rheinland

»Köln — die Heimatstadt weltberühmter Architekten.« Klingt eher befremdlich — und ist es auch. Bis auf eine herausragende Ausnahme: Gottfried Böhm. Am 9. Juni ist er im Alter von 101 Jahren gestorben.

Gottfried Böhm ist der Sohn des einflussreichen Kirchenplaners Dominikus Böhm und der Mann der Architektin Elisabeth Böhm sowie der Vater der Architekten Stephan, Peter und Paul Böhm. Er erhielt 1986 als einziger lebender deutscher Archi­tekt den Pritzker-Preis, die damals erst zum achten Mal vergebene renommierteste Auszeichnung für Architekten. Erst knapp 30 Jahre später erhielt der bisher einzige andere deutsche Pritzkerpreisträger Frei Otto den Preis 2015 posthum.

Nach dem genialen Architekten Meister Gerhard, der 1248 den gotischen Kölner Dom begann, kam sieben Jahrhunderte später der seit­dem zweitwichtigste Beitrag zur Welt­architektur aus Köln — mit dem ersten Werk Gottfried Böhms, der Neuschaffung von St. Kolumba um die »Madonna in den Trümmern« im Jahr 1947. Viele weitere Sakralbauten folgten. Entweder baute Böhm sie oder sie entstanden unter seinem direkten Einfluss, wie

St. Gertrud an der Krefelder Straße, St. Christi Auferstehung am Clarenbachkanal, die Kirche der Univer­sitätsklinik St. Johannes der Täufer sowie Wiederaufbauten wie St. Anna in Neu­ehren­feld, St. Joseph in Kalk, die Waisenhauskirche in Sülz oder die Zentralmoschee der DITIB in Ehrenfeld, für die Gottfried Böhm und sein Sohn Paul zusam­men­arbeiteten.

Aber auch wichtige weltliche Gebäude hat Gottfried Böhm in Köln geschaffen, etwa das Bezirksrathaus Kalk, die WDR-Arkaden, die Köln-Arena samt ihrer sogenannten Mantelbebauung, dem Stadthaus. Dazu kommen größere Wohnbauten und -ensembles in Chorweiler, Zündorf und Rheinkassel.

Ausgangspunkt und entscheidende Prägung seines Werks, das rund sechs Jahrzehnte überspannt, ist Böhms Studium der Bildhauerei. Bei aller Differenz in der Materia­li­tät, Konstruktion und Architektursprache ist das verbindende Element die Herangehensweise der skulp­turalen Gestaltung: von den ikonischen »Betongebirgen« der Marien-Wallfahrtskirche in Velbert-Neviges oder des Rathauses in Bensberg bis zur gläsernen Pyrami­de der Stadtbibliothek in Ulm oder den expressiven Dachkonstruktionen des Theaters in Potsdam. Trotz Jahrzehnten als Hochschullehrer an der RWTH Aachen und seiner vielbeachteten und oft beschriebenen Bauten war Gottfried Böhm nie ein Architekt der Worte, der Reden, Schriften und Theorien. Im Gegenteil war Böhm auch hier der Bildhauer, gern selbst handwerklich am Bau aktiv. Das belegen eindrückliche Berichte über den Guss der Türen von St. Gertrud, der Herstellung der innovativen Fenster von Christi Auferstehung oder der Hängebetondecke von St. Kolumba.

So benötigt man keine theore­tischen Abhandlungen, um Böhm näher zu kommen. Um seine Weltklassearchitektur zu entdecken und auf sich wirken zu lassen, braucht man in Köln und Umgebung nur eine Liste seiner Bauwerke und ein Fahrrad oder ein Ticket für die Straßen- oder S-Bahn. Tipp: St. Matthäus und Umfeld in Düsseldorf-Garath! Im vergangenen Jahr zum 100. Geburtstag Böhms hat ein lockeres Bündnis aus 16 Vereinen und Institutionen rund um das Architektur Forum Rheinland, den BDA Köln und das Haus der Architektur das Entdeckungs-Programm »BÖHM100« zusammengestellt, auf boehm100.de kann man noch vieles davon sehen.

Bleibt die Frage, was Köln, diese »gebaute Jogginghose«, aus diesem wichtigen Beitrag zum Architekturschaffen macht. In einer Stadt, in der man den Eindruck hat, mit dem Dom sei ästhetischem Anspruch und gestalterischem Willen erst mal Genüge getan und den Rest könne man — nicht schön, aber bequem (Jogginghose ...) — vollbauen. Man muss wohl auf dieses baukulturelle Erbe in Stadt und Region besonders achten. Nicht zuletzt, nachdem im Umfeld von Christi Auferstehung bereits Bauten von Böhm einer angeb­lich besseren Grundstücksnutzung weichen mussten und ein Frühwerk Böhms, die Kirche St. Ursula in Hürth-Kalscheuren, mit Genehmigung des Erzbistums für relativ kleines Geld an einen Immobilien­entwickler verkauft und nur mit viel Glück als Galerie (»Böhm-Chapel«) umgenutzt wurde. Ein positives Beispiel ist hier der Mariendom in Neviges, der gerade aufwändig saniert wurde und dessen Baustelle der Architekt noch mit 99 Jahren bis auf die Gerüste hinauf besuchte.

Gottfried Böhm wird in seinen Bauten weiterhin präsent bleiben. Ein eher schweigsamer Architekt, der in seinem langen Schaffen keinen durchgehenden Stil hatte, sondern eine eigenständige Haltung. Das Erste kann man auch über seine Heimatstadt und wichtige Stätte seines Wirkens sagen, das Zweite wünscht man sich von ihr.