Lässt die Formen wuchern: Carla Bley, Foto: Nah Inu

Rolltreppe zwischen den Generationen

Die Monheim Triennale stellt zu ihrem Auftakt Carla Bleys Hippie-Fantasie »Escalator Over The Hill« in den Mittelpunkt

Wenn eine Frau an Bord ist, sinkt das Schiff. Ende 1964 schlossen sich in New York die jungen, schüchtern bewunderten und heftig angefeindeten Jazz-Avantgardisten zu einem Musikerkollektiv zusammen: die Jazz Composers Guild. Ein damals radikaler kulturpolitischer Akt der Selbstermächtigung, so radikal wie die Musik, die sie spielten und die man Fire Music nannte oder eben — Free Jazz. Aber: Wenn eine Frau an Bord ist, sinkt das Schiff. So lautete das Urteil, das Sun Ra über das einzige weibliche Mitglied des Kollektivs sprach: Carla Bley. Die Avantgarde als rein männliche Angelegenheit? Aus heutiger Sicht eine unglaubliche Geschichte, aber typisch.

Die Stimmung auf dem Meeting des Kollektivs wurde explosiv, wie Bley Jahre später dem Kulturmagazin thequietus.com erzählt hat. Sie wurde wütend, beschimpfte Sun Ra übel — der als Jazzer aus Alabama und schwarzer Afrofuturist selbst härteste Ausgrenzungen erlebt hatte. Der revanchierte sich: »Yeah, of course you’re yelling at me. You’re the white woman yelling at the black man.« Also Rassismus gegen Sexismus ausspielen (oder umgekehrt)? Diese Bruchlinien hat uns nicht erst das 21. Jahrhundert beschert. Bley trat damals nicht aus der Guild aus, Sun Ra insistierte nicht auf ihren Ausschluss. »Sun Ra und ich kamen von diesem Zeitpunkt an gut miteinander aus«, sagt sie The Quietus. »Ich glaube, wir waren höflich zueinander, und ich liebte seine Bands immer noch sehr. Ich habe allerdings keine Ahnung, was er dachte.« Die Jazz Composers Guild scheiterte übrigens an profaneren, aber ebenso typischen Dingen: Anstatt Plattenverträge und Auftrittsbedingungen strikt kollektiv zu verhandeln, handelten zu viele Musiker auf eigene Faust und brachen die Absprachen.

Die heute 85-jährige Pianistin, Komponistin und Bandleaderin Carla Bley gilt längst als Jahrhundertkünstler des Jazz — wie selbstverständlich auch Sun Ra. Man darf trotzdem melancholisch darüber werden, dass beide ihre großen Kompositionen und visionären Big-Band-Konzepte außerhalb des ursprünglichen Kollektivs verwirklichten. Bley, die damals mit ihrem Mann Michael Mantler das visionäre Jazz Composer’s Orchestra leitete, begann 1968 die Arbeit an einem Projekt, das alle Dimensionen sprengte — sowohl die des Pop wie des Jazz. »Escalator over the Hill« nannte sie das Mammutprojekt, an dem gemessen »Tommy« von The Who oder » Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« wie Grundschülermalerei wirken.

Drei Jahre dauert der Bau der Rolltreppe, die Konstruktion ist atemberaubend: Bley bewegte so konzentriert wie beseelt eine irrsinnig große Anzahl von Musikerinnen und Musikern, lud prominente Gäste wie Jack Bruce, Linda Ronstadt, Don Cherry oder John McLaughlin ein, teilte die Musiker auf verschiedene Bands auf und entwickelte die (Gesangs-)Rollen entlang eines kryptischen Librettos, das der Beat-Poet Paul Haines parallel zu der Arbeit an den Stücken schrieb. Ob es eine Handlung gibt? Angeblich nicht. Aber die Handlung ist in Wirklichkeit die Musik selbst, die Bley sich frei entwickeln lässt, dabei alle Genregrenzen lustvoll ignorierend. »Escalator over the Hill« ist weder Konzeptalbum noch Rock-Oper noch eine Big-Band-Suite à la Ellington noch eine Free-Jazz-Explosion noch eine Kurt-Weill-Hommage. Aber alle diese Elemente und Formen durchdringen und überlagern sich, sorgen für hybride Kreuzungen, Mutationen, Evolutionssprünge: zwei Stunden Musik, 1971 veröffentlicht auf einer Triple-LP.

Erst 1997 kam das Werk überhaupt auf eine Bühne — im Kölner Stadtgarten und auf Anregung Reiner Michalkes. Michalke ist heute künstlerischer Leiter der Monheim Triennale, die letztes Jahr übel von den Umständen der Corona-Krise ausgebremst wurde und auch dieses Jahr nur in abgespeckter Form — als »Prequel« — stattfinden kann. Die Idee dieser Triennale ist bekanntlich, dass Musiker nicht bloß für einen Auftritt eingeladen werden, sondern sie mehrere Tage vor Ort sind, unterschiedlichste Projekte vorstellen und sich vor allem untereinander mischen. Das ist im Prinzip die »Escalator over the Hill«-DNA.

Mit der Entscheidung, »Escalator over the Hill« 50 Jahre nach seiner Album-Premiere, in den Mittelpunkt des Prequels zu stellen, wird diese DNA offengelegt und die Verbindung zwischen den Musikergenerationen hergestellt: die eingeladenen Musiker — ob Ava Mendoza, Shazad Ismaily, Stian Westerhus, Marcus Schmickler, Phillip Sollmann, Colin Stetson oder Robert Landfermann — werden sich auf Bleys Werk einlassen und sich mit ihm in ihren Auftritten und Performances auf ihre höchst idiosynkratische Weise auseinandersetzen. Zudem gibt es den so gut wie nie gezeigten Film von Steve Gebhardt zu sehen, der Bleys Arbeit an dem Album dokumentiert.

Ein konzeptioneller Glücksgriff: Denn es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass mit »Escalator over the Hill« eine musikalische Entwicklung begann, die sich immer weniger an Genres und Konventionen hält und immer mehr auf kreativ-individuelle Imagination und kollektive Realisation setzt. Das wurde mal postmodern genannt (und hat die humane Seite der Postmoderne im Sinn) — aber ganz ehrlich: Die Modernität von »Escalator over the hill« ist bis heute noch nicht ganz begriffen.

Und wo findet das »Prequel« statt? Auf einem Schiff. Es wird bestimmt nicht untergehen.

monheim-triennale.de