Bescheidenheit wär’ eine Zier

»Nomadland«

Chloé Zhaos Doku mit fiktiven Elementen ist Oscar-prämiert, hat aber blinde Flecken

Seit Chloé Zhao in Venedig den Golden Löwen gewann, hat ihre dritte Regiearbeit mehr Kritikerlob und Preise eingeheimst als irgendein anderer Film in Corona-Zeiten, gipfelnd im Oscar-Triumph in drei Hauptkategorien. Das ist nicht unverdient. Jedenfalls werden 2021 nicht viele Filme in hiesigen Kinos laufen, die stärker sind als »Nomadland«. Zumal die Western-Miniatur »First Cow«, Kelly Reichardts hintersinnige Schelmengeschichte über kapitalistischen Geist an der amerikanischen Frontier, nur eine Streaming-Premiere haben wird. Und deshalb kann »Nomadland« es vertragen, wenn man zur Abwechslung die blinden Flecken hervorhebt.

Wie in ihrem interessanten Debüt »Songs My Brothers Taught Me« und im hinreißenden »The Rider« mischt Zhao, die 1982 in Peking geboren wurde, aber seit der Jahrtausendwende in den USA lebt, wieder Dokumentarisches mit fiktiven Elementen. Dabei ergänzt ihr Drehbuch eine Sachbuchvorlage über Wohnungslosigkeit in den USA um eine Protagonistin, die nach dem Tod ihres Ehemannes und dem Verlust ihres langjährigen Jobs in einem Wohnmobil durch den dünn besiedelten amerikanischen Westen streift.

Anders als in Zhaos ersten beiden Filmen steht hier ein Hollywoodstar im Mittelpunkt. Frances McDormand, die »Nomadland« auch federführend produziert hat, ist für ihre Darstellung der introvertierten Fern mit einem Oscar ausgezeichnet worden — weshalb umso mehr ins Auge fällt, dass ihr Spiel nicht gerade bescheiden wirkt. Dokumentarisches wird wiederum redundant, wenn die eindringlichen Worte einer wohnungslosen Seniorin, die hier als reale Person auftritt und die ein einstiges Naturerlebnis tröstlich auf ihre Krebserkrankung bezieht, später mit einem nachgereichten Videoschnipsel bebildert werden.

Irritierend ist vor allem, wie unempfindlich der Film gegenüber sozialen Konflikte bleibt: Mag sein, dass es einer subjektiven Einschätzung realer Weggefährt*innen entspricht, wenn Fern den Lohn, den Amazon seinen Saisonkräften in der Weihnachtszeit zahlt, »gutes Geld« nennt. Die Seniorin dann auffallend leicht bepackt durch eine echte Lagerhalle des Internet-Giganten schlendern zu sehen, spottet allerdings jeder Beschreibung. Folglich ist die Reflexion mythischen amerikanischen Pioniergeistes hier eindimensionaler als in »The Rider«: Fern erinnert nicht zuletzt an ikonische Westernhelden, wobei Zhao jedoch anscheinend vergisst, dass deren Entwurzelung tragisch wirkte.

(dto) USA 2020, R: Chloé Zhao, D: Frances McDormand, 107 Min., Start: 1.7.