So sieht Kluge-Unterhaltung aus

»Orphea« von Alexander Kluge und Khavn de la Cruz

Alexander Kluge und Khavn de la Cruz knöpfen sich den alten Mythos gemeinsam vor

So absurd es klingen mag: Alexander Kluge und Khavn de la Cruz sind wie füreinander geschaffen. Der eine Bonner Republik-Intellektueller mit Sendeplatz bei RTL, der andere Dichter, Sänger, Songwriter und Enfant terrible des philippinischen Weltkinos. In gewisser Hinsicht weiß man schon seit »Happy Lamento« (2018) um dieses perfect match. Für den Dokumentarfilm hatte Kluge weite Passagen aus de la Cruz’ »Alipato — A Brief Life of an Amber« (2016) über Jugendbanden in Manila kreativ verwendet. Aber da arbeiteten beide für sich allein — die Kooperation bestand im gegenseitigen Austausch und im freien Umgang mit dem Material des anderen. Bei »Orphea« haben sie nun enger kooperiert, wenn auch nicht direkt zusammengearbeitet. Doch bei aller Heterogenität der Szenen könnte man glauben, Kluge und de la Cruz’ hätten sich dauernd auch noch über letzte Details abgestimmt.

Auch die Geschichte bekommt neue Vorzeichen: In »Orphea« wechseln Orpheus und Eurydike das Geschlecht — das ändert alles und nichts an ihrem Schicksal. Lilith Stangenberg leiht nicht nur der Figur Orphea ihren Leib, sondern mehreren Gestalten, und manchmal sprechen weitere Charaktere durch sie, zum Beispiel Alexander Kluge, während sich Khavn de la Cruz die Gestalt seiner philippinischen Heimat leiht, um eine Hölle zu schaffen. Eine Welt, die schaurig ist, doch keine Angst macht. Der Film entwickelt so einen speziellen Reiz: Nichts in »Orphea« scheint gesichert, alles ist in Bewegung, im Umbruch, mag sich jederzeit wandeln und verwandeln. Alles ist Rhythmus, Dynamik, Musik, erregend vielstimmig für die Ohren und an­regend reich an Texturen für die Augen.

Die Form der Zusammenarbeit der Filmemacher — einer Jahrgang 1932, der andere Jahrgang 1973 — ist maßgeblich für das Ergebnis. Wer zu zweit einen Film macht, gibt etwas von seinem Ego auf, gibt sich den Überraschungen und Eingebungen des Gegenübers hin. Liebe ist Aufgabe. Aufgeben bedeutet, die Selbstsucht hinter sich zu lassen. Es ist ein Aufbruch in etwas Gemeinsames. Wer liebt, kann nicht nur das Objekt der

eigenen Liebe aus der Hölle holen wollen. Wer liebt, will alle Toten zurückführen ins Licht. »Orphea« von Alexander Kluge und Khavn de la Cruz hat die antike Tragödie mit ihren ehernen Maßgaben hinter sich gelassen. Um sie als Arsenal vieler Möglichkeiten, als bewegliche Formation von Sehnsüchten neu zu erträumen. Das allein scheint doch schon erstrebenswert.

(dto) D 2020, R: Alexander Kluge, Khavn de la Cruz, D: Lilith Stangenberg, John Lloyd Cruz, Ian Madrigal, 99 Min., Start: 22.7.