Außenseiter im 19. Jahrhundert

»First Cow« von Kelly Reichardt

Streaming-Tipp: Kelly Reichardt erzählt von Freundschaft und amerikanischer Pioniergeschichte

»Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen Freundschaft.« Mit diesen Zeilen des englischen Dichters William Blake beginnt Kelly Reichardts Westerndrama »First Cow«, das ganz genreuntypische Töne anschlägt. Weil Zugehörigkeit nicht über einen Ort definiert wird, sondern über ein Gegenüber. Nach einem kurzen Prolog in der Gegenwart, der das Ende bereits vorwegzunehmen scheint, erzählt Reichardt geradlinig und berührend vom Zusammenhalt zweier Außenseiter im Oregon der 1820er Jahre. Sie suchen dort ihr wirtschaftliches Glück und wirken dabei wie Vorahnen der in Wohnmobilen lebenden Arbeiter aus Chloé Zhaos Oscar-prämiertem Drama »Nomadland«. Otis Figowitz (John Magaro) wird von allen nur Cookie genannt und arbeitet als Koch für eine Gruppe grobschlächtiger Fallensteller. Oft findet Cookie, der schüchterne Einzelgänger, in der rauen Wildnis nicht viel mehr als eine Handvoll Pilze. Auf einem seiner Exkursionen begegnet er dem Immigranten King Lu (Orion Lee), mittellos wie er, aber geschäftstüchtig. Die beiden tun sich zusammen und starten einen fliegenden Handel mit »oily cakes«, frittiertem Gebäck, das schnell reißenden Absatz findet. Die dafür notwendige Milch melken sie heimlich von der Kuh eines englischen Grundbesitzers (Toby Jones). Es ist die einzige Kuh in der ganzen Gegend, und lange geht es gut. Die beiden ungleichen Männer werden Vertraute und schmieden bald große Pläne. Sie träumen davon, mit den Münzen vom Kuchenverkauf, die sie im Wald verstecken, eines Tages in San Francisco ein Hotel zu eröffnen.

Reichardts Spielfilm ist das intime Porträt einer Freundschaft und zugleich ein Ausschnitt amerikanischer Pioniergeschichte, die weitaus vielfältiger ist als es Hollywood-Western jahrzehntelang erzählt haben. Die Geschichte basiert auf dem Roman-Debüt »The Half-Life« von Jonathan Raymond, der mit Reichardt auch eine deutlich minimalistischere Drehbuchfassung schrieb. Wie bereits bei ihren früheren Dramen »Meek’s Cutoff« und »Wendy & Lucy« übernimmt Reichardt den Filmschnitt selbst und überrascht mit einem ruhig fließenden Rhythmus der Bilder. Oft verharren sie bei scheinbar zufälligen Details und fangen kleine Momente ein, die mehr über unsere Zeit sagen, als es auf den ersten Blick scheint. »First Cow« lässt sich so auch als historisch verortete Kapitalismuskritik lesen, als fatalistischer Kommentar zu der Geburt des modernen Amerikas. Doch das wird, wie so vieles in diesem Film, zum Glück nicht ausbuchstabiert, sondern fast beiläufig beobachtet.

(dito) USA 2019, R: Kelly Reichardt, D: John Magaro, Orion Lee, Toby Jones, 122 Min., Start: Ab 9.7. auf Mubi verfügbar