Bringt das Sprechen bei: Ülkü Süngün (rechts) auf dem Ebertplatz , Foto: Robin Junicke

»Der Kritiker als Kunstrichter ist überholt«

Die Plattform »KritikGestalten« erforscht neue Formate für Theaterkritiken

»Enver Şimşek« spricht die Frau, ganz in Schwarz gekleidet, laut und deutlich in das Mikrofon vor sich auf dem Tisch. Es ist die Künstlerin Ülkü Süngün, die auf dem Ebertplatz in Köln den Menschen die richtige Aussprache der Namen all derer beibringt, die von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU ermordet wurden. »Takdir — Die Anerkennung« heißt Süngüns Performance, und die eben beschriebene Szene ist in einem Videoclip zu sehen, der Anfang Juni bei Instagram auftauchte. Rund vier Minuten hat die Journalistin Melis Içten vor Ort mit Handykamera gesendet, samt Besprechung des Stücks, Interview-Ausschnitten mit Süngün und Impressionen aus dem Publikum. Geht so Kulturjourna­lismus auf Social Media?

Es ist diese Frage, mit der sich die Anfang des Jahres gegründete Plattform »KritikGestalten« beschäftigt. Auf Facebook, Instagram und im Podcast, wollen die freien Theaterkritiker*innen neue Formate ausprobieren, um über zeitgenössisches Theater zu berichten. Vor allem die freie Szene stehe dabei im Fokus, erklärt Dorothea Marcus, Mitbegründerin von KritikGestalten und langjährige Stadt­revue-Autorin. »Wir wollen diese Szene sichtbarer machen«, sagt Marcus. »Und  journalistisch fundierte Theaterkritiken in neuem, frischen Gewand publizieren.«

Gefördert wird das Projekt vom Fonds Darstellende Künste, der im Oktober 2020 das Maßnahmenpaket #TakeNote auflegte: ein Programm, das überregionale Kooperationen in Zeiten der Pandemie fördert. 80.000 Euro hat KritikGestalten bekommen. Deren erstes großes Projekt war es, das Impulse-Festival journalistisch zu begleiten, das im Juni in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr stattfand. Interviews mit Regisseur*innen, Video-Berichte und Instagram-Storys wurden von den mehreren Spielorten aus veröffentlicht. Mitgemacht haben dabei auch die Nachwuchsjournalist*in­nen, die sich dafür beworben hatten.

Rund 25 Personen zählt die Gruppe um »KritikGestalten« mittlerweile. Bezahlt wird ihre Arbeit bis Ende September, wenn die Förderung ausläuft und man nach neuen Finanzierungen umsehen muss. »Das ist alles noch nicht ganz zu Ende gedacht«, sagt Dorothea Marcus. »Als die Anfrage vom Impulse-Festival gekommen ist, sind wir erst einmal ins kalte Wasser gesprungen.« Nun müsse man sich überlegen, ob man sich auch zukünftig von Festivals bezahlen lassen will, um über sie zu berichten. Denn bei solchen Kooperationen droht die Gefahr, zur Marketingmaschine zu werden — und das will KritikGestalten vermeiden. In mehreren »Laboren« arbeiten die Journalist*innen an neuen Ideen, etwa für Podcasts, Videos, Social-Media-Formate und Kinder- und Jugendtheater. »Wir funktionieren ganz klassisch über Crowd-Intelligenz«, sagt Dorothea Marcus. »Viele Köpfe mit vielen Ideen kommen zusammen und ergänzen sich.«

Florian Holler, ebenfalls Stadt­revue-Autor, ist einer von ihnen. Holler arbeitet gerade an seiner Masterarbeit, im Herbst beginnt sein Volontariat beim Kölner Stadt-Anzeiger. Zu »KritikGestalten« ist er gekommen, nachdem er sich dort mit einer Podcast-Idee beworben hatte. »Die Idee vom Theaterkritiker als Kunstrichter, der ein Stück aburteilt oder in den Himmel lobt, ist völlig überholt«, findet er. Florian Holler sieht in digitalen Formaten neue Chancen, etwa dass Hierarchien zwischen Journa­list*in­nen, Kunstschaffenden und dem Publikum abgeschafft werden. »Man kommt viel schneller in den Austausch und kann gemeinsam diskutieren.«

Aber wie muss eine Theaterkritik überhaupt aussehen, damit sie bei Menschen Interesse weckt? Wie bindet man im Kulturjournalismus Leser*innen? Es sind zukunftsweisende Fragen, die KritikGestalten stellt. Die Bedingungen, unter denen Kulturjournalist*innen arbeiten, haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Die Einsparungen, die Medienunternehmen in diesem Bereich vorgenommen haben, waren teilweise radikal.

Der Hessische Rundfunk hat für sein Kulturprogramm mehr Musik und weniger Wortbeträge beschlossen. Das Wochenmagazin Focus gab kürzlich bekannt, sein Kulturressort aufzulösen. Und im Januar sorgte der WDR mit der Ankündigung, die Literatur-Sendung »Mosaik« zu streichen, für Proteste.

»Es ist unausweichlich, dass wir uns mit diesen Veränderungen auseinandersetzen«, sagt Dorothea Marcus. Mit dem Team von KritikGestalten hat sie ein Symposium veranstaltet, auf dem Jour­nalist*innen an einem digitalen Runden Tisch über neue Formate diskutierten. In den nächsten Monaten wird es eine zweite Veranstaltung geben. Zunächst steht aber eine Rückschau auf die Berichterstattung vom Impulse-Festival an: Welches Format lief gut? Wo muss nachjustiert werden? Und wie kann man das Publikum künftig stärker einbeziehen? Bei einem ist sich Dorothea Marcus jedoch schon jetzt sicher: »Frisch und neu« sei diese Plattform. »Und längst überfällig.«

Weitere Informationen auf: instagram.com/kritikgestalten