Abseits der Bestsellerlisten – Teil 2

»GERMAN PIPAN«

I

Fröhlich pfeifend öffnete er die Haustür und blieb stehen. Sein Lächeln verschwand und er fluchte. Wie konnte das passieren, ohne dass er es bemerkt hatte? Deswegen dachte er immer, dass es gefährlich sei, zu tief zu schlafen. Denn waren da nicht Feinde, die stets daran arbeiteten, das Erwachen zu ruinieren? Sie ruhten nie und diese Überzeugung hat ihm schon mehrmals das Leben gerettet. Er hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut, dass seine Ohren vergessen hatten zu hören, was außerhalb seines kleinen Hauses vor sich ging.

Wie immer wachte er kurz nach Sonnenaufgang auf, fügte etwas Holz zum Feuer hinzu, stellte fest, dass es feucht war, schwor sich, das nächste Mal besser auf die Qualität zu achten. Er wartete an der sterbenden Flamme, bis sie wieder auflebte und ging ins Bett zurück. Wärme mache das Leben angenehmer, das erklärte er regelmäßig jedem, der es hören wollte, jedem, der ihn ansah und sich die Zeit nahm an seiner Seite zu sitzen, was aber seltener geworden war. Er schlief schnell wieder ein, denn schlafen war besser, als wach zu sein und nichts zu tun.

Er war kein fauler Mann, er war nie faul gewesen. Das hätte auch seine Mutter, wäre sie noch am Leben und nicht von dieser Krankheit dahingerafft worden, die die Menschen hässlicher macht als sie sind, bezeugen können. Aber sie konnte ihn nicht zu sehr geliebt haben, weil sie nicht in der Lage gewesen war, gegen dieses Übel anzukämpfen. Er kannte Mütter und Väter, die unter demselben Grauen gelitten und sich davon erholt hatten, um weiterhin an der Seite ihrer Kinder zu bleiben. Zwar erzählte Pastor Abel jedem, dass Gott sich besser um die Waisen kümmere als um die, die noch eine Mutter und einen Vater haben. Aber er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, an die Worte dieses Mannes zu glauben, der ihm nie erklären konnte, warum sein Leben so war, wie es war. Niemals konnte er seine leeren Predigten mit Logik füllen.

Die Seiten der Bibel umzublättern, immer wieder und wieder mit seinen mageren Fingern, die er pausenlos befeuchtete, konnte dem Sinnlosem nie einen Inhalt geben. Dieser Mann sollte »der Umblätterer« genannt werden, dachte er sich, wenn er ihm auf der Straße begegnete und seinen schwarzen missbilligenden Blick ertragen musste. Aber warum brütete er über dem Pastor, obwohl er gerade über etwas anderes wütend war? Verbann ihn aus deinen Gedanken, verbann diesen Mann aus deinem geistigen Blickwinkel, bevor sein ewig schwarzes Kleid deinen Tag verdunkelt, den Tag, der gerade so schief aussah. Sein Freund Klaus, der nicht richtig schreiben konnte, sagte ihm, dass sie mit dem Leben, das sie führten, sicher in den Himmel kommen würden, denn Gott könne sie nicht in diesem und im nächsten Leben bestrafen. So was gehöre sich nicht.

Man tötet einen Mann nicht zweimal. Einmal ein gut platzierter Schuss und weiter zum Nächsten. Klaus erzählte ihm, dass er die Gabe hätte, die Seelen, die die Körper verließen, die im Schlamm versanken, sehen zu können. Manchmal beschrieb er sie als leichtlebig, tanzend, Halleluja singend, als ob sie endlich von dem Narren, der sie gefangen hielt, befreit würden. Diese Seelen, die sicherlich Menschen mit guten Vorhaben bewohnt hatten, jubelten, und sie eilten fröhlich zum Himmel hinauf, wo Jesus sie mit offenen Armen erwartete. Und dann gab es die anderen, die mit den Zähnen knirschten und anfingen ihm hinterherzujagen, weil sie es ihm übel nahmen, dass er sie befreit hatte, während sie noch daran arbeiteten, ihre Sünden vor dem Jüngsten Gericht zu reduzieren. Sie waren diejenigen, die, auf der Flucht vor der sengenden Hitze der Hölle, seinen Schlaf immer wieder störten.

Er teilte nicht Klaus’ Meinung, der glaubte, alles zu verstehen, alles zu wissen, dessen Erklärungen aber etwas sonderlich waren. Deswegen hatte er ihm den Spitznamen »der Zwerg« gegeben. Das überraschte immer alle, die diesen Namen hörten, denn Klaus war ein großer stattlicher Mann. Jetzt, wo er darüber nachdachte, gab es Zwergen-Soldaten? Sie würden jeden Krieg gewinnen, weil sie angeblich die klügsten und beweglichsten waren. Man muss nur an die Heldentaten von Schneewittchen und den sieben Zwergen denken. Darüber sollten die Kriegsliebhaber der Welt nachdenken.

Worüber hatte er gerade noch nachgedacht? Er hörte einen leichten Galopp näher kommend auf der fast leeren Straße. Es war Bully, der noch immer mit seinem neuen Pferd herumstolzierte. Die ganze Straße hatte dieses Tier schon gesehen, die ganze Stadt muss es gekannt haben, aber Bully musste jeden Abend mit ihm ausreiten, um die Welt zu erkunden, sagte er, wenn er sich die Mühe machte zu reden. Er grüßte ihn mit der Hand, aber wie immer hatte Bully seinen Blick geradeaus gerichtet und die Arme, die sich zur stillen Begrüßung erhoben, waren ein nur für ihn bestimmter Teil der unsichtbaren Welt. Es wurde erzählt, dass ihn im letzten Krieg eine Kugel in den Kopf getroffen hatte und darin geblieben war. Das waren Dinge, die passierten, wenn man nicht auf den Kampf achtete. Als er das begriffen hatte, nachdem er einige seiner Kameraden um sich herum durch das Feuer feindlicher Geschosse hatte fallen sehen, mit zerschmetterten Gesichtern, zerfetzter Brust, abgerissenen Beinen, beschloss er, Martin Auge, der Schuster, Sohn von Sebastian Auge und Gertrude Scholl, dass an diesem hitzigen Sommertag 1866 der Krieg für ihn vorbei war. Er musste lebendig nach Hause zurückkehren, auch wenn dort niemand auf ihn wartete.

Also musste er einen Weg finden, um aus dieser Misere zu entfliehen. Er meldete sich, um Teil der Gruppe zu sein, die als erste die bayerische Barrikade auf der Saalebrücke angreifen sollte. Der erste Versuch war ein Misserfolg, aber ein Erfolg für ihn, denn er wurde mit einem Bajonett in den Bauch getroffen und kehrte, von seinen Kameraden weggetragen, in sein Lager zurück. Natürlich hatte er darauf geachtet in der Hitze des Gefechts, nachdem die ersten Gewehrschüsse ausgetauscht worden waren, sich ein wenig auf das Gewehr des ersten Bayern zu werfen. Ah, er erinnerte sich immer noch an den kleinen Soldaten, der ihn verwirrt angeschaut hatte. Dass Bayern die Schlacht am Ende verlor, war für ihn keine Überraschung, denn in Zeiten des Krieges wie in Zeiten des Friedens gehörte das Leben den Gerissenen. Schwer verwundet, nach seinen eigenen Worten unfähig aufrecht zu gehen, geschweige denn eine Waffe zu halten, selbst, nachdem seine leichte Bauchwunde verheilt war, bescheinigte ihm der Arzt mit Skepsis, dass er nicht mehr kampffähig sei und er wurde nach Hause geschickt.

Er konnte seine Zeit nicht vor der Haustür verbringen und in seinen verstreuten Erinnerungen schwelgen, denn eine wichtige Mission wartete auf ihn. Trotz seiner Abneigung gegen den Schnee, der beschlossen hatte an diesem Tag heftig zu fallen, schlug er den Kragen seines alten Mantels hoch, schloss seine Tür ab und ging die Straße hinunter in Richtung des Bahnhofs. Er versuchte, sich auf die Überraschung, die auf ihn warten sollte, zu konzentrieren und kam nach einer Viertelstunde Fußmarsch an der Puschkin-Promenade an. Er konnte schon die Wohlgerüche des von der »Großen Bertha« betriebenen Restaurants »Zur Wachsbleiche« erahnen! Die »Große Bertha«, die ihren Spitznamen nicht wegen ihrer Größe, sondern wegen der Weite ihres Herzens erhalten hatte, hatte ihn eingeladen, um ihm ihre aus Berlin angereiste Cousine vorzustellen. Sobald er die Eingangstür öffnete, begrüßte ihn eine freundliche Wärme, gefolgt von einer lächelnden Bertha.

Bertha setzte ihn an einen Tisch und ging zurück in die Küche. Ein paar Minuten später kam eine kleine junge Frau mit einem runden Gesicht wie ein reifer Apfel, der gerade vom Baum gefallen war, auf ihn zu, in der Hand einen Krug Bier. Da wusste der arme Martin, dass diese junge Frau, Luisa, zu seinem Reichtum beitragen würde. Dass sie seine Frau werden würde.

Als sie ihm das Getränk auf den Tisch stellte, hörte er das Heulen des Zuges, der in den Bahnhof einfuhr. Der Bahnhof, von dem aus der Zug abgefahren war, der ihn zusammen mit hunderten von jungen Leuten in den Krieg geführt hatte.
Sie waren glücklich und sangen, weil sie noch nicht wussten, wie es war, Kugeln um den Kopf pfeifen zu hören und nachts nicht schlafen zu können, sogar wenn die Stille zurückkehrte. Sie wussten nicht wie es war, mit dem Gesicht voran in den Schlamm zu fallen, den Arm durchbohrt, den Schmerz zu spüren, der so stark in den Raum eindrang, dass man Zahnschmerzen bekam, die nie aufhörten. Jeder sollte sein kleines Haus, seine kleine Frau, seine kleinen Kinder haben und nur für sie kämpfen, nur für sie.

II

Doppel. So nannten Sie Max. Am Anfang mochte er das nicht, aber mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt und es akzeptiert. Er hatte frei und war mit seinem Freund Manfred und zwei Dorfbewohnern unterwegs, mit denen sie Palmwein kaufen wollten, als er einen schmerzhaften Stich am linken Bein spürte. Eine Schlange, eine Schlange hatte ihn gebissen. Ihm war sofort klar, dass sein Leben ein klägliches Ende finden würde. Er sank auf den Boden, fasste an sein Bein und spürte sofort einen zweiten Biss an dem anderen Bein. Einer seiner Begleiter sagte, dass es dieselbe Schlange war, die ihn ein zweites Mal gebissen hatte. Sie trugen ihn zu ihrem Dorf und brachten ihn zu Gogo, dem Heiler. Manfred war strikt dagegen und wollte ihn ins Krankenhaus nach Lomé bringen, aber sie lachten laut und gaben ihm zu verstehen, dass die deutsche Medizin weder einen Schlangenbiss verstehen noch ihn heilen könnte.

Die Nachricht über den Mann, der zweimal von derselben Schlange gebissen worden war, verbreitete sich sehr schnell und alle im Dorf wollten ihn sehen, anfassen, mit ihm reden. Sie nannten ihn »Agbeve«, weil er von einer der giftigsten Schlangen der Gegend angegriffen worden war und das aus unerklärlichem Grund zweimal, aber es schadlos überlebt hatte. Er hatte ein wenig Fieber bekommen, sonst nichts. Aus »Agbeve«, das in Ewe, der einheimischen Sprache »zwei Leben« bedeutet, wurde »Doppel«, wie Manfred ihn nannte.

Die Mücken, die sich über seinem Kopf versammelt hatten, wussten also gar nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Wie eine blutrünstige Schwadron gingen sie in Stellung und bereiteten sich auf den Angriff vor. Er lächelte nur. Arme Mücken! Wie konnten sie wissen, dass er einen eigenen Körpergeruch entwickelt hatte, der für sie Gift war? Es war ein Wunder, das vielleicht auf die Wirkung des Schlangengiftes in seinem Körper zurückzuführen war. Aber dieser Mücken-Kommandant, der schon in unzähligen Kriegen gekämpft hatte, dachte, er wäre sehr schlau. Sie folgten den Bewegungen seines Kopfes und warteten. Er stand auf, lief ein wenig umher, aber sie folgten ihm mit der Gewissheit, dass er irgendwann müde werden und seinen Widerstand aufgeben würde. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Mücken zu vergessen und sich auf den morgigen Tag zu konzentrieren. Der nächste Tag war ein zu wichtiger Tag, um ihn sich von diesen Insekten mit ihrer fehlgeleiteten Gier verderben zu lassen. Warum war er nicht zu Hause geblieben? Dort, wo die wenigen Mücken keine Krankheiten übertrugen? Er schmunzelte. Die Entscheidung hierherzukommen, war einfach gewesen. Sich der Kolonialtruppe anzuschließen und sein kleines Leben in Cottbus zu verlassen, war das Beste, was ihm hatte passieren können. Er, der Sohn eines gewalttätigen Mannes und einer traurigen Frau.

Die Begegnung mit Manfred, der im Schlachthof arbeitete, aber den Kopf voller Träume hatte, veränderte sein Leben. Er verstärkte seinen Wunsch, seine Heimat zu verlassen und die Welt zu erkunden. Er hatte einen Onkel, der irgendwo in Afrika ein sehr wichtiger Mann war, zu dem er aber wenig Kontakt hatte. Eines Tages kam Onkel Waldemar aus Togoland zu Besuch. Die Türen zur Kolonialtruppe öffneten sich dadurch bald für ihn und seinen Freund Manfred.

Es war einmal ein junger Rekrut, der am 03. Juni 1903 mit zitternden Beinen an Bord der »Woermann« kletterte. Seine Eingeweide schrien vor Angst und fingen an so schnell Polka zu tanzen, dass die Reise für ihn zu einer wahren Tortur wurde!
Es war einmal ein junger Rekrut, der Tage und Nächte damit verbrachte, sich zu übergeben und das Schiff, das nicht ruhig wie einen Zug fahren konnte, zu verfluchen. Und es waren diese Wellen, deren Unermesslichkeit und Wut ihn fragen ließen, was er dort zu suchen hatte, mitten im Nirgendwo, auf dem Weg ins Ungewisse. Manfred war schwindelfrei und hatte bestimmt noch nie das Wort »seekrank« gehört. Das Schiff war sein Palast und beim Fegen tanzte er von der Rekrutenkabine zum Maschinenraum, wann immer er sicher war, dass ihn kein Vorgesetzter sah und ihn über die Seltsamkeit seiner Schritte ausfragen konnte.
Manfred aß, schluckte, schluckte alles, was aufgetischt wurde, und er, der ein paar Meter entfernt saß, war grün wie ein Apfel, der von Würmern gefressen wurde.

Es war einmal ein junger Rekrut, der eine betäubende Hitzewallung spürte, als er nach einer lange Reise, die für ihn eine ewige Fahrt im Dunkel war, im Hafen von Lomé wieder ans Licht kam. Die Hitze! Denn das war es, woran sich sein kranker und abgemagerter Körper erinnerte. Eine sengende helle Sonne, die ihn willkommen zu heißen schien. Er musste nicht mehr an sein karges Leben oder an seinen Vater denken, der ihn in seinen Erinnerungen immer wieder heimsuchte. Er lebte jeden Tag und versuchte, nicht den Wahnvorstellungen dieses Vaters zu erliegen, der eine Welt aufgebaut hatte, in der er wie ein verrückter König regierte. Seine Mutter hatte gelitten, und er wünschte sich so sehr, sie eines Tages zu dieser Sonne führen zu können, die ihn von allen seinen Leiden zu heilen schien.

Nach der Ankunft des Schiffes wurde er sofort in das »Königin Charlotte Krankenhaus« gebracht, ein kleines Krankenhaus, das nur deutsche oder europäische Patienten aufnahm. Es wurde von Dr. August Renner geleitet, einem jungen Aristokraten, der durch seine Abenteuer in Afrika die Weitsicht gefunden hatte, die er in seiner Familie vermisste. Er kurierte, heilte, hörte zu und erfand Heilmittel aller Art.

Er begeisterte sich für das Werk Alexander von Humboldts, der ihm den Weg zu exotischen Pflanzen ebnete, obwohl er behauptete, ein Jünger von Humboldts Reisegefährten, dem Franzosen Aimé Bonpland, zu sein. Der Hauptmann spottete über sein Geschwafel, Manfred hörte ihm gar nicht zu, und einige seiner Kameraden, neue Rekruten, die die Reise mit ihnen gemacht hatten, lachten ihn aus und meinten, die Sonne müsse ihm zu sehr auf den Kopf gebrannt haben und es sei Zeit, dass er nach Deutschland zurückkehre, in die Arme einer guten bayerischen Frau, damit er zur Vernunft komme. Und die ganze Gesellschaft lachte, denn es gehörte zum guten Ton, über Vorgesetzte zu lachen oder über diejenigen, die eine Arbeit hatten, die mehr intellektuelle Schärfe erforderte als die eigene. Max mochte Dr. Renner, weil er fast einen Monat bettlägerig in diesem Krankenhaus verbracht hatte und sein Überleben nur der Pflege und Aufmerksamkeit dieses Mannes verdankte. Der Doktor trug immer einen breiten Strohhut und rauchte eine Pfeife, die aus dem Elfenbein eines javanischen Elefanten geschnitzt war, wie er zu sagen pflegte.

Nach seiner Genesung wurde Max in ein Dorf namens Gbodjomé geschickt, um sich etwa zehn jungen Deutschen anzuschließen, die den Bau der Eisenbahnlinie überwachten, die das Togoland in Richtung des benachbarten Dahomey durchqueren sollte. Mehrere Dutzend einheimische Arbeiter waren auf der Baustelle, angeführt von Bauingenieur Gerhard Schneider, der nichts lieber tat, als seine Befehle zu brüllen, als wäre er von Gehörlosen umgeben.

Um die Wahrheit zu sagen, hatte Max nicht viel zu tun, außer mit seinem Gewehr in der Hand unter der Sonne herumzulaufen, und die Arbeiter zu beobachten. Manchmal hatte er sich in Streitigkeiten zwischen Männern eingemischt, die nicht die gleiche Sprache sprachen und sich gegenseitig ausgiebig beleidigten. Später erfuhr er dann, dass es sich dabei immer um Affären mit Frauen handelte. An diesem Tag dachte er, dass diese Männer mit der schwarzen Haut, den imposanten Lippen und dem Lachen mit den großen weißen Zähnen (die Manfred hasste, da er jeden Menschen mit perfekten Zähnen, der sich erlaubte, vor ihm zu lachen, als Affront gegen ihn betrachtete) eigentlich die gleichen Sorgen hatten wie die Menschen in seiner Welt. Die gleichen Sorgen, die er hatte. Frauen!

Aber warum sollte es auch anders sein? Vielleicht erschienen sie den Deutschen nur so anders, weil sie nichts über Jesus und die Heilige Schrift wussten? Sie würden nie in den Himmel kommen, behauptete Manfred, und er war tolerant, außer wenn es darum ging, einen bequemen Platz zu teilen. »Sehen Sie, sie beten nicht und wenn sie es doch tun, beten sie nicht zu dem wahren Gott, sondern verneigen sich, schließen die Augen und verspotten uns. Sie lachen uns immer aus«, sagte Tobias, der schon länger dabei war und in Dörfern gewesen war, in denen er seiner Meinung nach das wahre Gesicht des schwarzen Mannes sehen konnte.

Max stellte sich nicht allzu viele Fragen, denn er war einfach nur glücklich dort zu sein, weit weg von seinem Vater, von seiner Heimatstadt, von dieser Welt, in der er nicht wusste, wofür er überhaupt existierte. Hier, mit einem Gewehr auf der Schulter, einem Schutztruppenhut auf dem Kopf versuchte er, jeden anzulächeln, der mit ihm sprach. Er fühlte sich gut und manchmal dachte er, dass dies das Wesentliche sei. Er hatte keine Träume wie Manfred, der sich schließlich über alles beschwerte und nie mit etwas einverstanden war.

Ein großes Werk war vollbracht und Max war stolz darauf. Am nächsten Morgen um 8 Uhr, würde der erste Zug Lomé in Richtung der Stadt Petit-Popo, die seit einiger Zeit auch Aného genannt wurde, verlassen.
Am Morgen hatte er hunderte von toten Mücken zu seinen Füßen gefunden, was ihn zum Lächeln brachte, als er seinen Kaffee trank.

Er würde an der Seite von Kaspar, dem Lokführer stehen, eine sehr wichtige Position, die er sich dank seiner Ernsthaftigkeit und seines guten Humors erarbeitet hat. »Zu Hause hast du nicht so viel gelacht«, sagte Manfred, um ihn zu necken, aber er spürte, dass Manfred manchmal von seinem Humor genervt war. Ein Jahr harter Arbeit waren wenige Wochen zuvor zu Ende gegangen, als der Zug nach zahlreichen Kontrollen die Betriebserlaubnis erhielt. Er hätte in dieser Nacht gerne geschlafen, aber der Kapitän hatte verlangt, dass der Zug bewacht werden müsste. Er hatte Angst, irgendein Eingeborener könnte einsteigen und ihn nachts in sein Dorf mitnehmen, um dort darin zu feiern und ihn am Ende als Opfer für irgendeine hässliche Gottheit in Brand zu setzen. Sie hatten darüber gelacht, aber der Kapitän meinte es ernst.

Als er der Kolonialtruppe beigetreten war, hatte Max einige Geschichten über Afrika und das große Werk des Deutschen Reiches im Kopf. Er, der sich in seinem kleinen Zimmer in Cottbus elend gefühlt hatte, war sehr überrascht gewesen, wie zurückgeblieben die Bewohner dieser Gegend waren. Keine Straßen, keine Fahrzeuge, keine Fahrräder, keine Restaurants, keine Bars. Einfach nichts. Und ihre lustige bunte Kleidung ließ ihn nicht träumen. Sie sprachen weder Deutsch noch Französisch noch irgendeine andere Sprache der zivilisierten Welt. ­Schreiben und lesen war ein Luxus, und er erfuhr, dass diese armen Männer und Frauen ohne die Anwesenheit der Norddeutschen Mission aus Bremen niemals in der Lage gewesen wären, ihre eigenen Sprachen zu ­schreiben oder zu lesen. So wären sie in Unkenntnis der biblischen Texte geblieben und dem Feuer der Hölle ausgeliefert, weil sie Christus niemals kennengelernt hätten. Und nach allem, was er seit seiner Ankunft gehört hatte, waren ihre Götter nichts als des Teufels Verlockungen.

Der Zug war gerade in den Bahnhof Aného eingefahren. Sie hatten die vierundvierzig Kilometer nach Lomé in etwas mehr als zwei Stunden zurückgelegt. Eine bunte Menge versammelte sich bei der Ankunft mit Gesang und Tanz. Ringsherum verkauften ein paar junge Mädchen Bananen, Kokosnüsse, Papaya, Zuckerrohr und andere Waren, die er noch nicht kannte. Eisenbahnarbeiter waren auch da und schienen einigen ihrer staunenden Freunde die Fortschrittlichkeit des Zuges zu erklären, dieser Meisterleistung deutsche Technik.

Mit Manfred an seiner Seite folgte er Bauingenieur Gerhard Schneider, der von seinem Sekretär Grützemann und drei weiteren Beamten begleitet wurde. Eine örtliche Delegation, angeführt von einem Häuptling, war gekommen, um sie zu begrüßen. Mit verkniffenem Blick und schmalen Lippen schritt Herr Schneider wachsam auf den Mann zu, dessen Kopf von einem großen Turban umgeben war, der ihn sicherlich vor der prallen Sonne schützen sollte.

Max hatte wenig Interesse an der Zeremonie und sah eine junge Frau, die eine Schale mit Kokosnüssen zu ihren Füßen hatte und sich angeregt mit einer anderen Verkäuferin unterhielt. Er winkte Manfred zu, dass er etwas zu trinken holen wolle, was Manfred ihm energisch untersagte und ihm mit dem Zeigefinger zeigte, dass er auf seinem Posten hinter den Beamten bleiben sollte. Aber er schaute auf die fröhlichen Männer und Frauen um sie herum und sah keinen Grund, warum er es sich nicht leisten könne, ein paar Meter abseits zu stehen, um Kokosnussmilch zu trinken. Er hob Zeige- und Mittelfinger, um Manfred zu signalisieren, dass er nur um zwei Minuten bat.

Manfred lächelte daraufhin und Max ging ein paar Schritte auf die junge Verkäuferin zu, die mit jemandem redete und laut lachte. Er sagte ganz leise »Entschuldigung« und sie drehte den Kopf zu ihm, schluckte ihr Lachen herunter und wurde plötzlich wieder ernst. Er hätte sie gerne gebeten, weiter zu lachen, aber sein Wortschatz in der Landessprache war sehr begrenzt. Er schaute daher nur zu, während sie leichthändig eine kleine Axt benutzte, um die Watte der Kokosnuss zu entfernen und dann den Rumpf aufzubrechen. Erschrocken hörte er plötzlich eine Stimme aus seinem Körper kommen: »Können Sie bitte wieder lachen?«. Als er diesen Satz laut dachte, erhellte ein breites Lächeln ihr Gesicht und zwei tiefe Grübchen erschienen auf ihren Wangen. Er hatte Lust, Kokosmilch in sie zu gießen und sie zu trinken. Das Mädchen bemerkte seine Verwirrung und sagte zu ihm in korrektem Deutsch: »Ich bin Afi«. Und er antwortete, als er mit zitternden Händen die Kokosnuss nahm, »ich bin Max aus Cottbus«. Afi fuhr fort: »Ich bin Afi aus Gbodjomé«. In genau diesem Dorf war er in den letzten Monaten stationiert gewesen, aber er hatte sie nie gesehen, sonst hätte er sie, genauso sicher wie er in diesem Moment Manfred in seinen Rücken hörte, nie verlassen.

Er wusste nicht mehr, was Manfred zu ihm sagte. Er erinnerte sich nur an die Tränen, die ihm in die Augen stiegen und an das Mädchen, das ihn mit einem Ausdruck der Überraschung ansah. Er, der kleine Soldat, der kein Soldat war, dünn, wie eingeklemmt in seine khakifarbene Uniform, das Gewehr lässig auf der Schulter ruhend, die Haare kurz geschnitten unter seinem gelben Schutztruppenhelm, weit weg von seinem Vater, der jahrelang seine Ohren mit Liedern über seinen Ruhm als ehemaliger Soldat gefüllt hatte, der im Alleingang die gesamte bayerische Armee auf der Saalebrücke mit einer Pistole in jeder Hand in die Flucht geschlagen hatte. Dieser Vater, der nie eine Gelegenheit ausließ ihn zu demütigen, um sich selbst zu verherrlichen und seine Frau zu zermalmen, um sich selbst aufzubauen. Sein Vater hatte ein paar närrische Freunde, die in ihr kleines Haus kamen, dessen Anbau zu einer Schusterwerkstatt umfunktioniert worden war. Sie verbrachten die Zeit mit großen Reden, sein Vater ab und zu mit einem Schuh in der Hand, und gaben jeden erdenklichen Unsinn von sich. Sie waren die größten Helden, die die Welt je gesehen hatte, sie waren die besseren Könige und Herrscher. Und irgendwann fing sein Vater an zu erzählen, dass er sogar der bessere Jesus gewesen wäre, weil er die Römer überlistet hätte und nie mit 33 Jahren an ein Kreuz genagelt worden wäre, sondern die Welt mit seinen magischen Kräften erobert hätte. Max war der Sohn eines grotesken Märchenhelden, der monatelang auf seinen Sohn wütend war, weil dieser besser rülpsen konnte. So lange er sich zurückerinnern konnte, war es immer sein Wunsch gewesen, weit weg von diesem Mann zu kommen, um eines Tages seine Mutter zu retten, die trotz der Schreie und Verachtung des Mannes stoisch an seiner Seite stand und ihn weiterhin »ihren Martin« nannte. Und da stand er nun und trat in die Fußstapfen seines Vaters, den er verabscheute! Tausende von Kilometern war er gereist, um eine junge Frau zu treffen, deren Wangen sich beim Lächeln aushöhlten, als wolle sie ihn dort begraben.

Er hatte auf seinen nächsten freien Tag gewartet, um Afi am Bahnhof in Aného zu treffen. Er hatte mit Manfred über sie gesprochen, der tatsächlich Schwingungen bemerkt hatte, als an diesem 18. Juli 1905 eine Kokosnuss von einer Hand in die andere wanderte. Er hatte gedacht, dass Manfred sich für ihn freuen würde, aber der hatte ihm gesagt, dass er mit diesen Wahnvorstellungen aufhören sollte und dass es die schlechteste Idee der Welt sei, eine N. zu lieben, die er nicht kannte. Sie waren so weit gekommen, um ihrem kleinen Leben zu entfliehen und sich auf andere Abenteuer vorzubereiten. Nach Amerika zu gehen, war zu Manfreds Obsession geworden. Dieses Afrika, voller großer brauner Fliegen, voller Worte, deren Bedeutung kein zivilisierter Mensch verstehen konnte, voll von diesen Heiden und ihren Götzen, von diesen Männern, die herzhaft lachten, diesen Frauen, die es sich nicht nehmen ließen, jeden weißen Mann mit ihrem Lächeln zu provozieren, das er zwar anziehend fand, ihm aber Leistenpickel bescherte, und diesem unendlichen Gestrüpp war keineswegs eine Welt, in der sich ein guter Christ ewig aufhalten, geschweige denn einen Pakt mit einer ihrer Frauen eingehen sollte. Max war von der Schärfe der Worte seines Freundes überrascht gewesen. Er hätte nie gedacht, dass dieser das Land, in dem sie sich befanden, so sehr hasste.

»Aber nein, ich hasse es doch nicht«, antwortete Manfred. »Ich möchte mich nicht in ihre Welt einmischen und ich möchte, dass sie sich von meiner fernhalten. Wir sind nicht dazu bestimmt, miteinander auszukommen, also was soll das bringen? Lass uns einfach unsere Arbeit machen, und wenn wir hier fertig sind, gehen wir nach Amerika.« Mit dem Gefühl, dass Streiten zu nichts führen würde, beschloss er, nichts zu erwidern. Er stieg in den Zug, um am Bahnhof Aného auszusteigen, wo Afi mit ihren Korb voll mit Kokosnüssen auf ihn wartete.

Es war der denkwürdigste Tag in seinem Leben. Wie, fragte er sich, wie war es möglich, dass er so weit von seiner Heimat entfernt bei einem Volk, von dem er sich nie vorgestellt hatte, dass es existierte, ein Volk so viel primitiver als sein eigenes, wie war es möglich, dass er bei diesem Volk ein Mädchen traf, das ihm seine Gedanken raubte? Er hatte ein paar Mädchen gekannt, die ihm gut gefallen hatten, aber er hatte sie genauso schnell wieder vergessen. Keines von ihnen war so sehr in sein Wesen eingedrungen.

Sie empfing ihn mit ihrem gelochten Lächeln, und er sagte sich, dass er bereit war, alles für dieses Mädchen aufzugeben, das so dunkel war wie er hell. In diesem Moment begann er, sich über den Sinn dessen, was er in diesem Land tat, Gedanken zu machen. Mussten Sie aus Deutschland kommen, um in einem unbekannten Land Schienen zu verlegen und Waren zu transportieren? Brauchten sie ihn, den Sohn von Cottbus, der Sohn eines verlorenen Mannes, um den Bau von Eisenbahnen in der fernen Stadt, oder besser gesagt, in dem großen Dorf Lomé, zu beaufsichtigen? War es notwendig, das Wort des Herrn unter diesen Männern zu verbreiten, die ihr Leben in aller Stille lebten, ohne sich darum zu kümmern, was jenseits der Meere geschah? Er hatte einige von ihnen getroffen, Männer und Frauen, Dorfoberhäupter, Arbeiter, Gläubige, die beschlossen hatten, ihren Gott zu verlassen und dem Gott der Deutschen zu folgen, Bauern, die nur wussten, wie sie das anbauen konnten, was sie brauchten, um ihre Familien zu ernähren, Tänzer, die den Anschein machten, die glücklichsten Menschen auf Erden zu sein. Er hatte nicht viele Bücher gelesen, aber er wusste, dass diese Männer und Frauen, bis die anderen kamen, ihr Leben so lebten, wie sie wollten. Mussten wir kommen und diese Menschen in der Langeweile ihres Lebens stören? Und die Antwort kam wie ein Geschoss und traf ihn in die Brust, die zerriss. Ja, wir mussten hierher kommen, um zu leben, wir mussten hierher kommen, um an dem Bahnhof in Aného eine Kokosnuss aus der Hand eines jungen Mädchens zu erhalten. Wir mussten hierherkommen, um zu lieben!

Sie setzte den großen Korb mit den Kokosnüssen auf ihren Kopf und bat ihm, ihr zu folgen. Der Himmel grollte und er sah, wie sich einige dunkle Wolken an dem klaren Himmel bildeten, den er heute Morgen verlassen hatte. Verlegen ging er neben ihr her, den Kopf mehr oder weniger gesenkt, um den Blicken auszuweichen, die auf ihm verweilten. Zum ersten Mal bemerkte er dieses seltsame Phänomen, dass niemand allein unterwegs war. Er zögerte ein wenig, als Afi sich umdrehte und ihm ein Zeichen gab, sich zu beeilen. Ein paar Minuten später kamen sie auf dem öffentlichen Platz von Aného an, wo sich einige Leute versammelt hatten und lautstark plauderten. Er hätte gerne gefragt, was vor sich ging, aber sein Mund war so trocken, dass das kleinste Wort geplatzt wäre.

Die Männer hörten auf zu reden und drehten erstaunt ihre Köpfe zu ihnen um. Ja, er hatte da nichts zu suchen. Ein Deutscher, der neben einer togoischen Frau herging, war ein seltenes Bild. Lächelnd begrüßte Afi die Anwesenden und sie antworteten höflich. Einige von ihnen sprachen ihn auf Deutsch mit »Guten Tag« an. Er versuchte, mit einem Schmunzeln zu antworten. Ein paar Regentropfen begannen zu fallen, es hörte aber schnell wieder auf. Sie kamen vor einem kleinen Haus an, das aus Terrakotta zu bestehen schien und weiß getüncht war. Afi öffnete das Tor und sie fanden sich in einem kleinen Innenhof mit drei separaten Schlafzimmern wieder. Auf der einen Seite des Hofes befand sich ein Gemüsegarten, neben dem eine junge Frau hockte und auf einem großen Stein mit einem kleineren Stein rote Chilischoten zerdrückte. Die junge Frau drehte sich um und sah ihn an, sprachlos. Sie schaute zu Afi, die, ohne sich weiter um sie zu kümmern, in eine der Hütten ging, aus der sie ohne ihren Korb aber mit zwei Hockern in den Händen wieder herauskam, die sie auf den Boden stellte und ihn bat, Platz zu nehmen. Die junge Frau, die ihren Mund nicht mehr schließen konnte, war Amélé, Afis ältere Schwester.

Als Amélé endlich wieder zu sich kam, rannte sie in einen der Räume hinein und kam mit einer Holzschüssel mit Wasser heraus, die sie Max überreichte. Er zögerte, bevor er einen kleinen Schluck trank. Schnell räumte Amélé ihre Arbeit zusammen, brachte alles in eines der Zimmer und verließ bald das Haus.
Max saß Afi gegenüber und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Sein einziges Ziel an diesem Tag war es gewesen, mit Afi zusammen zu sein, und jetzt, wo es wahr wurde, wusste er nicht, was er tun sollte.

Afi erzählte ihm mit den wenigen Brocken Deutsch, die sie sprach, dass sie in der Stadt Atakpame als Köchin für die Norddeutsche Mission gearbeitet hatte und nach dem Tod ihres Vaters, der das Oberhaupt des kleinen Dorfes Gbodjomé war, zurückgekehrt war. Er versuchte zaghaft, mit seinem kleinen mit Deutsch vermischten Ewe-Wortschatz ein wenig über sein Leben zu erzählen. Von seinem Vater, der ein Verlierer war, der nach seiner Flucht aus dem Krieg nie aufgehört hatte, vor der Verantwortung für seine Familie davonzulaufen. Konnte ein Mann, der sich weigerte für sein Land zu sterben, für seine Familie kämpfen? Max saß im Zug der Bitterkeit und wusste nicht, an welcher Station er aussteigen sollte. Seine Mutter, die seinen Vater geliebt hatte und noch liebte, aus einem Grund, der einem biblischen Wunder glich, schien ihren Zug verpasst zu haben, denn sie wartete immer noch am Bahnhof der Verzweiflung.

Und schließlich kam er in Afrika an, in der Hoffnung, endlich einen Platz am Strand zu finden. Sie hatte ihm geduldig zugehört, als ob sie mit dem Klang jeden Wortes das Wirrwarr seines Lebens verstanden hätte. Sie fragte ihn, wie er zu der Schutztruppe gekommen sei, und er erzählte ihr von Waldemar Horn, dem ehemaligen Gouverneur von Deutschland in Togoland, der der Onkel seiner Mutter war und ihm geholfen hatte. Als sie diesen Namen hörte, erschrak die junge Frau und neigte den Kopf. Als sie ihn hob, waren ihre Augen gerötet und ihre Stimme zitterte.
»Wissen Sie, warum dieser Mann Togoland verlassen hat?«
»Ja, ich habe es erfahren, als ich hierher kam. Er hatte einen Einhei­mischen, der sich geweigert hatte, seinen Befehlen zu folgen, ausgepeitscht. Der Mann erlag dann seinen Wunden.«
»Dieser Mann war Häuptling Agbodji von Gbodjomé.«
»Ah…«
»Und er war auch mein Vater.«
Sie stand auf, bildete mit der rechten Hand eine Art Trichter vor der Mund und begann zu schreien.
»Eye lo, eye lo, amewuto va lo, amewuto va loooo!«

Max stand plötzlich auf, sein ganzer Körper wurde von einem kalten Luftzug erfasst, der seine Beine lähmte. Das Tor öffnete sich bald, Afis Schwester Amélé trat ein und ging zu ihrer schreienden Schwester, um sie zu beruhigen. Ein Dutzend der Leute, die sie auf dem öffent­lichen Platz gesehen hatten, kamen und drangen in das Haus ein. Afi zeigte auf Max. Er war der Neffe des Mannes, der Agbodji zu Tode gepeitscht hatte.

Max verstand nicht alles, was sie gerade gesagt hatte, aber die Feindseligkeit und Aggression in den Stimmen, Blicken und der Körperhaltung der Männer machten ihm klar, dass er in Gefahr war. Sein verdammter Vater, sein Narr von einem Vater, hätte er ihn wie einen Mann behandelt, hätte er niemals sein Land verlassen und sich in dieser Situation wiedergefunden. Er versuchte zu erklären, dass er nichts davon gewusst habe, dass er erst davon gehört hatte, als er in dieses Land gekommen war. Verzweifelt entschuldigte er sich für all das Leid, das sein Onkel angerichtet hatte. Afi lachte und er verstand nun, warum ihre Grübchen ihn an Gräber erinnerten, als sie sich das erste Mal trafen. Ein dünner glatzköpfiger Mann mit einem Lendentuch, das mal weiß gewesen war, näherte sich Afi und begann mit ihr leise zu reden. Es wurde still. Als er fertig war, zeigte er auf Max und sagte auf Deutsch: »Tod!«

Max wusste, wie man rennt, Max wusste, wie man kämpft, Max hatte nie Angst, aber Max bewegte sich nicht, er war völlig betäubt. Er schaute in Afis wütenden Blick und spürte, wie in ihm Tränen hochkletterten. Ein Mann trat aus der Gruppe heraus und ging auf ihn zu. Er erkannte ihn, weil er einer der Arbeiter war, die am Bau der Eisenbahn gearbeitet hatten.

Der Mann zeigte auf Max, erklärte etwas, wobei ab und zu das Wort »Doppel« auftauchte. Einige hörten auf zu reden und sahen ihn erstaunt an. Der Mann im weißen Lendenschurz sprach in Afis Ohr und wandte sich an Max, um ihm die Tür zu zeigen. Max zögerte, langsam machte er einen ersten Schritt in Richtung Tor und wartete. Niemand hatte sich bewegt. Er wendete sich um, suchte nach Afis Blick, aber sie drehte ihm den Rücken zu. Er verließ das Haus, zerfleddert wie ein vom Wind verwehter Strohballen. In dieser Hölle, in der er schmorte, lachte ihn sein Vater aus und feierte ein Fest.

Vor seinen Augen flimmerte es. Er sah, wie er in die Werkstatt kam, um seinen Vater etwas zu fragen und ihn dieser anschrie, ohne Grund, ohne Sinn, ohne Verstand. Wie Max den Hammer vom Tisch nahm und ihm damit auf den Kopf schlug. Wie sein Vater zu Boden fiel, mitten in seinem Schreien und Wüten. Wie Max sich auf ihn setzte und besinnungslos weiter auf ihn einschlug. Wie seine Mutter kam und sah. Wie zwei Wochen später sein Onkel in der Tür stand.

Als Max wieder zu sich kam, stand er vor dem Meer. Der Himmel wurde dunkel und beschloss, seinen ganzen Hass über ihm auszuschütten. Er hörte Mücken sirren, drehte sich um, sah aber nichts. Er war inzwischen nass bis auf die Haut und wusste nicht, ob es Regen war, der über ihn weinte, oder ob er im Regen weinte.

Samuel A. Wilsi, 1969 in Togo geboren, wuchs in der Côte d’Ivoire auf und kam 1992 nach Deutschland. Sein Theaterstück »Das ewige Lied« wurde 2008 von der Landesstiftung Baden-Württemberg ausgezeichnet. Es folgten zahlreiche Film- und Theaterarbeiten in Togo, Frankreich und Deutschland. Samuel A. Wilsi fungiert auch als Autor seiner Produktionen, die er als modernes Storytelling begreift. Dabei bedient er sich diverser Ästhetiken und Disziplinen der visuellen und performativen Künste.