Orientierungslos, aber voller Energie: Renate Reinsve in »The Worst Person in the World«

Ewig gestrig

Das Kino hat ein Problem mit der Gegenwart – nirgendwo zeigt sich das vielleicht so deutlich wie in Cannes

»Futura«, Zukunft, heißt ein italienischer Dokumentarfilm, der dieses Jahr in Cannes in der Sektion Quinzaine des Réalisateurs präsentiert wurde. Die Quinzaine wurde – ähnlich wie das Forum der Berlinale – in den politisch bewegten späten 60er Jahren als eine Art Gegenfestival zum damals schon als verknöchert und veraltet wahrgenommenen Hauptevent gegründet. Seit 2018 wird die Sektion von Paolo Moretti geleitet, der sich einen guten Ruf erarbeitet hat. Viele sehen die Quinzaine als stärker an als die festivaleigene Nebensektion Un Certain Regard, die dem Nachwuchs und kleineren Filmen gewidmet ist.

Welch hochkarätige Namen die Quinzaine anzieht, zeigt unter anderem »Futura«, an dem gleich zwei Filmemacher mitgearbeitet haben, deren Werke sonst die Wettbewerbe von Cannes, Venedig oder Berlin schmücken. Alice Rohrwacher gewann mit ihrem letzten Spielfilm »Lazzaro felice« (2018) den Drehbuchpreis in Cannes, Pietro Marcellos »Martin Eden« wurde 2019 in Venedig mit einem der Hauptpreise ausgezeichnet. Der Dritte im Regie-Bunde, Francesco Munzi, ist nicht ganz so prominent, hat aber auch schon mehrere italienische Filmpreise eingestrichen.

Italien analog

Die drei haben sich auf eine lange Reise durch Italien begeben und Jugendliche nach ihren Vorstellungen von der Zukunft gefragt. Das Ergebnis wirkt erstaunlich … gestrig. Das liegt nicht nur daran, dass die jungen Menschen in der Mehrzahl ziemlich traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen haben: Die Jungs wollen fast alle Fußballer werden, ein paar auch Mechaniker, während bei den Mädchen Kosmetikerin hoch im Kurs steht. Auch die ästhetischen Entscheidungen des Regie-Trios tragen zum gestrigen Eindruck bei: Gedreht wurde auf körnigem 16mm-Material, das selbst den visuell langweiligsten Interviewsituationen noch eine besondere Aura verleiht, allerdings eben auch die jungen Menschen der Gegenwart entrückt – passend dazu sind Mobiltelefone auch nur in einer kurzen Einstellung am Ende zu sehen. Fast pflichtschuldig werden sie nachgereicht. Ist das vielleicht der Punkt des Films, dass die Jugend sich eigentlich nicht ändert? Oder geht es um Italien, das ewig der Vergangen­heit verhaftet scheint (sicher nicht zufällig wollen die meisten Interviewten auswandern).

Die Gegenwart verloren

Der Blick auf ein Festival wie Cannes mit über 100 präsentierten Filmen wird immer von der persönlichen Auswahl bestimmt. Selbst der fleißigste Kinogänger wird es nicht schaffen, auch nur die Hälfte der Filme eines Jahrgangs zu sehen. Aber mich beschleicht schon seit mehreren Jahren der Eindruck, dass das Kino – zumindest wie es hier am liebsten zelebriert wird – die Gegenwart verloren hat, geschweige denn eine Zukunft imaginieren kann.

Sicher, Filme müssen nicht in der Gegenwart spielen, um mit ihr zu resonieren. Das konnte man in so unterschiedlichen Werken wie »Onoda« von Arthur Harari, eine Koproduktion der Kölner Pandora Film, und Paul Verhoevens »Benedetta« sehen. Ersterer erzählt den wahren Fall eines japanischen Soldaten, der nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre auf einer philippinischen Insel als eine Art Ein-Mann-Armee ausharrte – in der festen Überzeugung, der Krieg sei noch nicht beendet. »Benedetta« beruht ebenfalls auf einem wahren Fall – wenn auch wesentlich reißerischer und freier interpretiert. Die Nonne Benedetta sieht sich im Italien der Renaissance als Braut Jesu, was sie nicht daran hindert, eine lesbische Beziehung mit einer Novizin einzugehen. Ob Benedetta wirklich einen direkten Draht zu Gott hat, ob sie einfach nur fest davon überzeugt ist oder ob sie alles nur zu ihrem eigenen Nutzen vorschwindelt, bleibt im Film in der Schwebe. Klar ist, dass sowohl »Onoda« als auch »Benedetta« in unserer Gegenwart von Reichs­bürgern und Preppern, von Verschwörungs­theoretikern und Verschwörungs­profiteuren zu Vergleichen durch die Zeit einladen.

Einer der wenigen Filme im Wettbewerb des Festivals, der sich allerdings wirklich wie ein Film zur Zeit anfühlte, war Joachim Triers »The Worst Person in the World«. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich weder im Berufsleben noch privat so richtig entscheiden kann, wo es mit ihrem Leben hingeht, ist schon öfter erzählt worden. Aber Trier füllt sie mit so vielen treffenden Alltags­bobachtungen eines bürgerlichen Lebens in westlichen Wohl­stands­gesell­schaften, dass tatsächlich so etwas wie ein Film über einen Zeitgeist entsteht.