Stuhlkreis statt Hamsterrad: Bachmann und seine Schüler*innen

Herr Bachmann und seine Klasse

Maria Speth dokumentiert ein eher ungewöhnliches Schuljahr

Noch bevor Dieter Bachmann im Bild erscheint, schickt er seine Schüler*innen kollektiv aus dem Klassenzimmer, weil sie vor Unter­richts­beginn zu laut gewesen sind. Dem graubärtigen Protagonisten dieses Dokumentarfilms, der gern AC/DC-T-Shirts trägt und seine Glatze stets mit einer Mütze bedeckt, ist Disziplin trotzdem fremd. Aus einem Gespräch des Lehrers mit einem Freund geht hervor, dass er sich jahrelang gegen den eigenen Beruf »gewehrt« habe, wobei er von einer »Dressur« spricht, »die ich da täglich ja auch machen muss«. Immerhin habe er den ungeliebten Teil der Arbeit auf »nur noch so 10 %« beschränken können, schätzt er, und meint, dass »der Rest schon irgendwie sinnvoll ist.«

»Herr Bachmann und seine Klasse« lässt keinen Zweifel, dass die Titelfigur mit Leidenschaft bei der Sache ist. Allerdings wirft Maria Speths fünfter Langfilm die Frage auf, wieso eine provinzielle Gesamtschule jenem Bachmann, den die Filmemacherin seit Jahrzehnten kennt, seine eigen­sinnige Interpretation der Lehrerrolle ermöglicht. Zwar deutet sich an, dass er Mathe, Deutsch und andere Fächer unterrichtet, aber das scheint neben­bei zu passieren. Ein Großteil seiner Tätigkeit besteht darin, mit den Kindern zu musizieren, zu jonglieren oder einfach über dies und das zu reden.

Der Freiraum, der den zwölf- bis vierzehnjährigen Kindern bleibt, lässt die einzelnen Persönlichkeiten auch vor der Kamera schnell Konturen gewinnen: Da ist die leise Rabia, deren Gelassenheit ehrgeizige Ent­schlossen­heit verbirgt; der impulsive Cengizhan, der als Klassenclown unsichere Intelligenz überspielt; die energische Stefani, deren intuitive Auffassungsgabe angesichts der Tatsache, dass sie noch kein Jahr in Deutschland ist, umso mehr verblüfft. Weil Speth die Klasse 6b mehrere Monate lang beobachtet hat und ihr Film sich gut dreieinhalb Stunden Zeit nimmt, können sich Gruppendynamiken entfalten und auch stumme Außenseiter in den Blick rücken.

Dabei vergeht die Zeit fast wie im Flug — obwohl die Regisseurin, die auch für das Drehbuch (mit Reinhold Vorschneider), die Produktion und den Schnitt verantwortlich zeichnet, ihrem Stoff nur ein Minimum an Struktur gibt. Selbst wenn sich abzeichnet, dass die im laufenden Schuljahr beginnende Handlung auf den Abschluss der 6. Klasse zustrebt, der für die Kinder die Aufteilung in verschiedene Schulzweige bedeutet und für den Lehrer nebenbei einen Einschnitt in seinem Leben, leitet die ebenso souveräne wie subtile Montage daraus bloß einen hauchzarten Spannungs­bogen ab.

Der Charakter des stark industriell geprägten Handlungsortes Stadt­allen­dorf wird nicht nur in Alltagsimpressionen angedeutet, sondern auch in Unterrichtsdiskussionen und bei Schulexkursionen. Dabei kristallisiert sich das zentrale Thema Migration heraus, das die Familien­geschichten der meisten auftretenden Kinder wie auch mehrerer Lehrer*innen verbindet — und in der hessischen Kleinstadt mit dem Hunger der hiesigen Industrie nach billiger Arbeitskraft verknüpft ist.

Das liebevolle Bild, das Speth von Bachmann zeichnet, ist nicht als päda­go­gischer Idealtypus misszuverstehen. Wenn ein kauziger Lehrer die Vermittlung sprachlicher Grundkenntnisse zugunsten von hemdsärmeliger Sozialarbeit zurückstellt, ist das schlicht das Symptom eines defizitären Schulsystems und einer stillschweigenden Vorprägung gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Das Letzte, was großstädtische Arthouse-Freunde dem eigenen Nachwuchs wünschen würden. In einzelnen Momenten blitzt die Ahnung auf, was aus den sympathischen Kids mal werden wird, etwa wenn Hassan in gebrochenem Deutsch seinen Schulalltag zum Knochenjob seines Vaters in Bezug setzt. Und Speths Montage ist niemals beredter als in jenem Moment, in dem sie Aufnahmen einer den Schulflur putzenden Reinigungskraft Bilder der schüchternsten Schülerin der 6b folgen lässt.

D 2021, R: Maria Speth, 217 Min., Start: 16.9.