Sein und Bewusstsein in Neuehrenfeld
Es hat etwas von Sozialistischem Realismus — das Porträt einer italienischen Familie, das Regisseur Hans-Jürgen Hilgert 1976 mit seinem Fernsehfilm »Eine Kölner Familie« entwirft. Denn sein Bild der Santoros ist nicht allein der möglichst wirklichkeitsnahen Alltagsbetrachtung geschuldet. Hilgert entwirft auch eine Utopie: So soll es in den 1970er Jahren in den Augen bundesdeutscher Filmemacher*innen aussehen, wenn »Gastarbeiter« nach Deutschland kommen. Diese haben selbst gesellschaftliche Visionen, so wie Familie Santaro, die es von Süditalien nach Köln zog. Klassenkämpferisch und in bester dialektischer Tradition zeigen die allabendlichen Diskussionen der fünfköpfigen Familie am Küchentisch bei Zigaretten und Wein, wie sehr doch das Sein das Bewusstsein bestimmt — auch in Neuehrenfeld. Ohne gesprochenen Kommentar und nur mit spärlich eingesetzten Untertiteln lernen wir Vita Santoro kennen, der seit 1961 bei der Bundesbahn arbeitet. Natürlich leistet er Akkordarbeit, so wie auch seine ein Jahr später nachgeholte Frau, die bei einer Beleuchtungsfirma beschäftigt ist. Die Familie lebt in der Liebigstraße am Schlachthof, heute noch Heimat vieler Einwanderer*innen. Die Kinder können sich behaupten: Der 13-jährige Toni besucht die Hauptschule, ist Klassensprecher und debattiert auf Kölsch mit seinen Mitschüler*innen. Seine zwei Jahre ältere Schwester Angela besucht eine Fachschule, während Cosima, 20, im ersten Semester studiert und sich politisch engagiert. Sie demonstriert für BAföG und gegen unwürdige Wohnsituationen, so wie damals in der Subbelrather Straße 138. In dem mehrheitlich von italienischstämmigen Familien bewohnten Gründerzeitkasten besteht dringender Renovierungsbedarf. Gleichzeitig, darauf weist eine Einblendung hin, verlangt die deutsche Vermieterin Wucherpreise für die kleinen und dunklen Einheiten. Kommunistin Cosima mobilisiert die Mietergemeinschaft, um das zu ändern, und in Zigarettenschwaden wird schnell Einigkeit erzielt, dass die kapitalistischen Verhältnisse auf der Subbelrather Straße überwunden gehören. Verantwortlicher Redakteur für »Eine Kölner Familie« ist seinerzeit Peter Rüchel, der ungefähr zeitgleich anfängt, mit dem »Rockpalast« bundesdeutsche Fernsehgeschichte zu schreiben. Und Regisseur Hilgert legt ein Jahr später mit »Fremde Heimat«« eine Fortsetzung nach, die zeigt, wie italienisch sich die Santoros weiterhin fühlen, sobald sie ihre Verwandtschaft in Süditalien besuchen.
Hilgerts Filme laufen im September im Rahmen von »Vom Kommen, Bleiben und Verändern — filmische Geschichten der Migration«. Gezeigt werden Spielfilme, Kurzfilme und Dokumentationen aus den Jahren 1974 bis 2013 — damit knüpft Köln im Film an seine Reihe im Jahr 2019 an. Im Mittelpunkt stehen Kölner Geschichten, aber es gibt auch andere. Mirza Odabaşı wurde in Remscheid geboren und setzt sich in »93/13 — Zwanzig Jahre nach Solingen« mit dem rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç auseinander, bei dem fünf Menschen ums Leben kommen. Die vier deutschen Täter sind längst wieder auf freiem Fuß, und die, denen ihr Hass gilt, leben weiter in Angst. Eine Angst, die durch die NSU-Morde nicht geringer wird. Odabaşi, Jahrgang 1988, wird zugegen sein, wenn sein Film am Tag der Deutschen Einheit im Cinenova läuft. Dann dürfte er erneut darauf hinweisen, dass sich die Mehrheitsgesellschaft in seiner Heimat Deutschland nach wie vor kaum für rassistische Übergriffe interessiere, weil sie sich nicht mit den Opfern identifizieren könne.
Dabei wird doch bereits 2001 das 40-jährige Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in der Kölner Philharmonie zelebriert. Mittendrin ein Filmteam von Kanak Attak, das von den Sekt schlürfenden Honoratior*innen erfahren möchte, wie es denn um die Integration bestellt sei, wenn der Sekt sogar an diesem Abend ausschließlich von »Kanaken« gereicht werde. Diese Frage verbitten sich die feinen Damen und Herren und wenden sich angewidert ab. Auf die allzu sichtbaren Widersprüche der bundesdeutschen Migrationsgeschichte möchten sie lieber nicht hingewiesen werden.
Für seine Langzeitdokumentation »Der kölsche Hasan« wiederum begleitet Filmemacher Karl Wiehn in den 1970er Jahren sechs Jahre lang den titelgebenden Protagonisten, der als 15-Jähriger eine Lehre zum Kfz-Mechaniker beginnt und abbricht, mit 18 heiratet und Vater wird. Die Ehe scheitert, und wenig später bricht auch der Kontakt zum Filmteam ab. Diese sehenswerte Dokumentation zählt nun auch zum sorgfältig ausgewählten Überblick über vier Jahrzehnte Migrationsgeschichte und ihre Spiegelung im Film. Der zeitliche Bogen macht die Filmreihe besonders spannend: Mit welchen Erwartungen wurde Migration in ihren Anfängen verbunden, welche Entwicklungen haben Migrant*innen seitdem durchlaufen und wo steht der Diskurs heute? Erzählt das Kino eine Erfolgsgeschichte, die eines Scheiterns oder die einer Stagnation? Antworten auf diese Fragen könnten auch die vielen zu den Veranstaltungen kommenden Protagonisten der Filme geben. So kann sich auch Cosima Santoro noch mal selbst auf der Leinwand sehen — samt ihren Vorstellungen von einem Leben in Deutschland, die sie vor vierzig Jahren hatte. Man darf gespannt sein, wie sich dieses Bild zur Gegenwart verhält.
»Vom Kommen, Bleiben und Verändern«
Filmische Geschichten der Migration
Mi 22.9. Cinenova ab 19 Uhr:
Erste Veranstaltung der Reihe mit drei Filmen
Mi 29.9. Cinenova ab 19 Uhr:
Double Feature in Anwesenheit Cosima Sontoros:
»Eine kölsche Familie« und »Fremde Heimat«
Mehr zum Programm: koeln-im-film.de