Gespräch mit Mehrwert: Familie Santoro diskutiert

Sein und Bewusstsein in Neuehrenfeld

Die Filmreihe »Vom Kommen, Bleiben und Verändern« erzählt Geschichten der Migration zwischen 1974 und 2013

Es hat etwas von Sozialistischem Realismus — das Porträt einer italienischen Familie, das Regisseur Hans-Jürgen Hilgert 1976 mit seinem Fernsehfilm »Eine Kölner Familie« entwirft. Denn sein Bild der Santoros ist nicht allein der möglichst wirklich­keits­nahen Alltags­betrachtung geschuldet. Hilgert entwirft auch eine Utopie: So soll es in den 1970er Jahren in den Augen bundes­deutscher Filme­macher*innen aussehen, wenn »Gastarbeiter« nach Deutschland kommen. Diese haben selbst gesell­schaft­liche Visionen, so wie Familie Santaro, die es von Süditalien nach Köln zog. Klassen­kämpferisch und in bester dialektischer Tradition zeigen die all­abend­lichen Diskussionen der fünf­köpfigen Familie am Küchen­tisch bei Zigaretten und Wein, wie sehr doch das Sein das Bewusst­sein bestimmt — auch in Neu­ehrenfeld. Ohne gesprochenen Kommentar und nur mit spärlich eingesetzten Unter­titeln lernen wir Vita Santoro kennen, der seit 1961 bei der Bundes­bahn arbeitet. Natürlich leistet er Akkordarbeit, so wie auch seine ein Jahr später nachgeholte Frau, die bei einer Beleuchtungs­firma beschäftigt ist. Die Familie lebt in der Liebig­straße am Schlacht­hof, heute noch Heimat vieler Einwan­de­rer*innen. Die Kinder können sich behaupten: Der 13-jährige Toni besucht die Haupt­schule, ist Klassen­sprecher und debattiert auf Kölsch mit seinen Mit­schüler*in­nen. Seine zwei Jahre ältere Schwester Angela besucht eine Fach­schule, während Cosima, 20, im ersten Semester studiert und sich politisch engagiert. Sie demonstriert für BAföG und gegen unwürdige Wohn­situationen, so wie damals in der Subbel­rather Straße 138. In dem mehr­heitlich von italienisch­stämmigen Familien bewohnten Gründer­zeit­kasten besteht dringender Renovierungs­bedarf. Gleich­zeitig, darauf weist eine Einblendung hin, verlangt die deutsche Vermieterin Wucher­preise für die kleinen und dunklen Einheiten. Kommunistin Cosima mobilisiert die Mieter­gemein­schaft, um das zu ändern, und in Zigaretten­schwaden wird schnell Einigkeit erzielt, dass die kapitalistischen Verhältnisse auf der Subbelrather Straße überwunden gehören. Verant­wort­licher Redakteur für »Eine Kölner Familie« ist seine­rzeit Peter Rüchel, der ungefähr zeit­gleich anfängt, mit dem »Rockpalast« bundes­deutsche Fernseh­geschichte zu schreiben. Und Regisseur Hilgert legt ein Jahr später mit »Fremde Heimat«« eine Fort­setzung nach, die zeigt, wie italienisch sich die Santoros weiterhin fühlen, sobald sie ihre Verwandt­schaft in Süd­italien besuchen.

Hilgerts Filme laufen im September im Rahmen von »Vom Kommen, Bleiben und Verändern — filmische Geschichten der Migration«. Gezeigt werden Spielfilme, Kurzfilme und Doku­men­tat­ionen aus den Jahren 1974 bis 2013 — damit knüpft Köln im Film an seine Reihe im Jahr 2019 an. Im Mittelpunkt stehen Kölner Geschichten, aber es gibt auch andere. Mirza Odabaşı wurde in Remscheid geboren und setzt sich in »93/13 — Zwanzig Jahre nach Solingen« mit dem rassistischen Brand­anschlag auf das Haus der Familie Genç aus­ein­ander, bei dem fünf Menschen ums Leben kommen. Die vier deutschen Täter sind längst wieder auf freiem Fuß, und die, denen ihr Hass gilt, leben weiter in Angst. Eine Angst, die durch die NSU-Morde nicht geringer wird. Odabaşi, Jahrgang 1988, wird zugegen sein, wenn sein Film am Tag der Deutschen Einheit im Cinenova läuft. Dann dürfte er erneut darauf hinweisen, dass sich die Mehr­heits­gesell­schaft in seiner Heimat Deutsch­land nach wie vor kaum für rassistische Über­griffe interessiere, weil sie sich nicht mit den Opfern identifizieren könne.

Dabei wird doch bereits 2001 das 40-jährige Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbe­abkommens in der Kölner Philharmonie zelebriert. Mittendrin ein Filmteam von Kanak Attak, das von den Sekt schlürfenden Honora­tior*in­nen erfahren möchte, wie es denn um die Integration bestellt sei, wenn der Sekt sogar an diesem Abend aus­schließ­lich von »Kanaken« gereicht werde. Diese Frage verbitten sich die feinen Damen und Herren und wenden sich angewidert ab. Auf die allzu sicht­baren Wider­sprüche der bundes­deutschen Migrations­geschichte möchten sie lieber nicht hin­ge­wiesen werden.

Für seine Lang­zeit­dokumentation »Der kölsche Hasan« wiederum begleitet Filme­macher Karl Wiehn in den 1970er Jahren sechs Jahre lang den titel­gebenden Protagonisten, der als 15-Jähriger eine Lehre zum Kfz-Mechaniker beginnt und abbricht, mit 18 heiratet und Vater wird. Die Ehe scheitert, und wenig später bricht auch der Kontakt zum Film­team ab. Diese sehens­werte Dokumentation zählt nun auch zum sorg­fältig ausgewählten Über­blick über vier Jahrzehnte Migrations­geschichte und ihre Spiegelung im Film. Der zeitliche Bogen macht die Film­reihe besonders spannend: Mit welchen Erwartungen wurde Migration in ihren Anfängen verbunden, welche Ent­wick­lungen haben Migrant*in­nen seitdem durch­laufen und wo steht der Diskurs heute? Erzählt das Kino eine Erfolgs­geschichte, die eines Scheiterns oder die einer Stagnation? Antworten auf diese Fragen könnten auch die vielen zu den Veranstaltungen kommenden Protagonisten der Filme geben. So kann sich auch Cosima Santoro noch mal selbst auf der Lein­wand sehen — samt ihren Vorstellungen von einem Leben in Deutsch­land, die sie vor vierzig Jahren hatte. Man darf gespannt sein, wie sich dieses Bild zur Gegen­wart verhält.

»Vom Kommen, Bleiben und Verändern«

Filmische Geschichten der Migration

Mi 22.9. Cinenova ab 19 Uhr:
Erste Veranstaltung der Reihe mit drei Filmen 

Mi 29.9. Cinenova ab 19 Uhr:
Double Feature in Anwesenheit Cosima Sontoros:
»Eine kölsche Familie« und »Fremde Heimat«

Mehr zum Programm: koeln-im-film.de