Mit Weißwein vom Verlag umsorgt: Carl Hegemann, Bild: Vegard Vinge

»Glücklich im Unglück«

Das Buch »Dramaturgie des Daseins« versammelt Texte von Carl Hegemann

»Dauerhaftes Glück wäre so etwas wie Erlösung bei lebendigem Leibe.« Allein für Sätze wie diesen lohnt sich die Lektüre des Buches von Carl Hegemann. Weil er unendlich tröstend ist, der Gedanke, dass das Drama nicht nur eine Kunstgattung ist, sondern die Bedingung, dass wir überhaupt mit Bewusstsein am Leben sind. »Glücklich im Unglück« heißt folgerichtig auch der erste Text in dem Buch »Dramaturgie des Daseins«, das auf rund 400 Seiten Texte von Carl Hegemann aus den letzten 15 Jahren versammelt. Einige werden darin zum ersten Mal veröffentlicht, andere sind bereits erschie­nen, verstreut in Sammelbänden, Magazinen und Feuilletons.

Zur Erinnerung: Carl Hegemann, geboren 1949 in Paderborn, ein »katho­lisch erzogener Provinz­kna­be«, wie er selbst von sich schreibt, war mit einigen Unterbrechungen seit Beginn der Castorf-Ära 1992 prägender Dramaturg an der Berliner Volksbühne. Als anarchisch werden seine Theaterarbeiten oft bezeichnet, weil er die Stücke »zertrümmern« würde, also in ihre Bestandteile zerlegen und neu zusammenfügen. Vielleicht auch wegen der »Fähigkeit, gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen zu streben« hatte Hegemann in Christoph Schlingensief seinen künstlerischen Kompagnon gefunden.

Auch ihm sind einige Texte in der »Dramaturgie des Daseins« gewidmet. Ganz zum Ende des Buches hin kommen sie, in dem Teil, in dem Hegemann mit Nachrufen einen etwas pathetischen Abgesang auf die wilden Jahre des Theaters zelebriert. Bis dahin geht es aber um philosophische Versuche über eine zeitgenössische Dramaturgie. Shakespeares »Romeo und Julia« schließt Hegemann mit Slavoj Zizeks Begriff der absoluten Liebe kurz, die Familie überdenkt er als subversive Kraft gegen die Marktlogik, und in »Die schönste Zeit des Lebens« verknüpft er den Machtmissbrauch von Regie- und Intendanz-Despoten mit Eli Sagans kulturanthropologischen Überlegungen zu Königen, die nie aus der frühkindlichen Phase der Allmacht entlassen wurden.

Bei all dem bewegt sich Hegemann niemals in der »Eiswüste der Abstraktion« (Walter Benjamin), im Gegenteil: Bisweilen lassen sich die Texte als Alltagsratgeber lesen, etwa wenn die »B-Seite des Lebens« von Hölderlin, also seine ganz alltägliche Ratlosigkeit, fernab der Halbgötter-Welt, mit der coronabedingten sozia­­len Distanz verknüpft wird, »ganz stille in irgendeinem Behälter ge­­packt«. Illustriert werden die Texte von dem norwegischen Regisseur Vegard Vinge, eines der schönsten Bilder: der Dramaturg selbst, beim Schreiben in der Badewanne, mit Weißwein vom Verlag umsorgt.

Carl Hegemann / Raban Witt (Hrsg.): »Die Dramaturgie des Daseins. Everyday life«, Alexander Verlag 2021, 448 Seiten, 33 Euro