Living next door to Herr Detmold

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 233

Ich hatte ja keine Ahnung, dass Herr Detmold ausziehen wollte. Ich nehme jedenfalls an, dass er umgezogen ist: keine Sargträger, keine Polizei. Vielleicht hat die Frau ihn mitgenommen, die ihn ab und an besuchte. Man lebt unter einem Dach und weiß nichts voneinander. Dann schlägt man die Zeitung auf und sieht ein Foto des Nachbarn, darunter steht »Die ­Polizei sucht diesen Mann« oder »FC-Fan baut Stadionmodell aus Zigarettenkippen«. Herr Detmold hat nun eine Nachfolgerin, sie heißt Frau Beltensaum. Wäre die Wohnung im zweiten Stock links die Chefetage eines DAX-notierten Unternehmens, dann jubelte man: Gut für die Quote! Ich aber denke nur: Warum grüßt die neue Nachbarin mich denn nicht mal zurück, wenn ich sage »Guten Tag, Frau Beltensaum«? Dass Menschen, die in ein Haus mit einer überschau­baren Anzahl von Mietern ziehen, sich bei ihnen kurz vorstellen, wäre allzu nostalgisch; es ist wohl altmodisch wie Handkuss und ­Monokel. Aber einfach mal zurückgrüßen, na? Ich finde daran nichts reaktionär. Herr Detmold hat immer gegrüßt. »Gutentach«, es war eher ein geräuschvolles Ausatmen. Herr Detmold zog die Wörter zusammen, es klang wie ein Ortsname. Gutentach, Gutenbach. Ob die Frau, die manchmal vorbeikam, ihn mitnahm nach Gutenbach, Marktgemeinde Yspertal, Niederösterreich? Sicher ist die Landschaft reizvoller als hier.

Nie wären Herr Detmold oder ich auf die Idee gekommen, den anderen zum Kaffeeklatsch zu überreden. Es ist falsch, aus Nachbarn Freunde machen zu wollen. Living next door to Herr Detmold. Es war einfach freundliches Des­interesse plus zwei vernuschelte Wörter Anstand. Gutentach. Und ist das denn nicht viel? Wo so viel Hass in der Welt ist. All you need is love, geht ein alter Hippie-Schlager. Aber ich finde, freundliches Desinteresse ist schon genug. Liebe kann Menschen verrückt machen. Sprang aber jemals einer aus freundlichem Desinteresse vor einen Zug oder lag total blau und jammernd im Partybüfett? Na, also.

Frau Beltensaum starrt mich im Treppenhaus mürrisch an. Wie lange hält die das durch? So wird das nichts mit dem Weltfrieden. All die wohlfeilen Beteuerungen, all die Sprachregelungen, all das Gerede von Solidarität und Respekt und Ich-bin-okay-Du-bist-okay, all das ist doch null und nichtig, wenn es einem schon zu anstrengend ist, eine Grußformel zu nuscheln.

Aber so ist es nun mal: Zuneigung und Abscheu, sie sind beide unergründlich. So wie die Liebe bisweilen einschlägt wie der Blitz und alle Sicherungen in Herz und Hirn durchbrennen lässt, so auch der Hass. Auch er ist oft zufällig, anlasslos, aber nichtsdestoweniger kolossal. Da dachte ich: Es gibt die unerwiderte Liebe, und das ist schrecklich. Dann soll es auch den unerwiderten Hass geben! Ich lächle also weiter in die Mimik eines mürrischen Menschen, unterwürfiger noch als wie zuvor — umso mehr, da ich erfuhr, dass Frau Beltensaum gar nicht Frau Beltensaum heißt. (So heißt die Nachfolgerin von Hedwig Kammerstolz, die jetzt im Altenheim lebt, vormals Parterre rechts.) Da hab ich wohl aufs falsche Klingelschild gespinkst. Die neue Nachbarin hat gar keines. Aber wenn es sie schon so aus der Fassung bringt, zwar mit falschem Namen, aber doch ganz freundlich gegrüßt zu werden, dann, ja dann ... ich meine, wo soll das dann alles noch hinführen? Sind die Worte und die Namen wichtiger als das, was man tut? Man möge mich sonstwie nennen, ich hab’s alles schon gehört, ich ertrag’s, aber freundlich desinteressiert möge man zu mir sein, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das reicht doch schon, im Treppenhaus und woanders auch. Jedes Mal, wenn ich nun die Zeitung aufschlage, habe ich Sorge, das Bild der mürrischen, namen­losen Nachbarin zu sehen. Wer weiß, was sie vorhat.