Ästhetik der Befreiung: Julius Eastman

Bleibt am Ball!

Auf dem Week-End Fest wird die wunderbare Musik von Julius Eastman aufgeführt

Ein kleiner, schmächtiger Mann tritt aus dem Ensemble hervor und richtet sich an das Publikum, gleich wird er die Stücke ankündigen, die die Musiker spielen werden. Der Mann trägt ein schwarzes Hemd, was aber kein politisches Statement ist, sondern einfach die Distinguiertheit der Interpreten zum Ausdruck bringen soll. Neue oder klassische Musik spielt man ja meistens mit dezentem, zurückhaltendem Gestus. Es ist November 2017, die Kunst-Station St.Peter, einer der Kölner Tempel für Neue Musik, ist ausgekühlt. Ein Abend für Julius Eastman. Gab es in Köln zuvor schon einen Abend für Eastmans Musik? Vielleicht. Aber es ist eine Seltenheit — und es passt dennoch zur Zeit, denn Eastman wird seit ein paar Jahren wiederentdeckt, und von Jahr zu Jahr mehr. Das Mittelschiff der Kirche ist gut gefüllt, das Publikum gespannt. Jetzt nennt der schmächtige Mann die Stücktitel: »Evil N*****«, »Crazy N*****«, »Gay Guerilla«.

Die Musik des Free-Jazz-Saxofonisten Albert Ayler hat jemand mal beschrieben, sie klänge, als riefe während der Heiligen Messe jemand laut »Fuck!«. Genau daran fühlt man sich erinnert, als die Namen der Stücke Eastmans fallen — wüste Sprache, gewaltsame Sprache, verbotene Sprache. Was für ein Kontrast zu diesem Ort und diesem doch sehr züchtig daherkommenden Ensemble (no offense!).

Das organische ­Prinzip von Eastmans Musik: Nichts geht verloren, Platz ist für alles!

Und dann erst die Musik: pulsierend, dynamisch, nach vorne preschend, voller Lebenslust, klar perlend, bis die Kaskade der Töne undurchhörbar wird! Was hier aufgeführt wird, ist keine Konzeptmusik, die aus Schemata abgeleitet wird, ist nicht der ausgelatschte Minimalismus. Eastman sprach lakonisch von »organic music«. In diesen dürren Begriff passte für ihn alles: sein musikalischer Anspruch, seine Liebe zu Popmusik und Disco, sein politisches Bekenntnis, seine schwule Subjektivität. Jeder neuer Abschnitt einer Komposition enthält alle Informationen des vorherigen und erweitert sie um neue Erfahrungen: Das war das organische Prinzip seiner Musik. Nichts geht verloren, Platz ist für alles. »Too much of a good thing can be wonderful«, um es mit der Schauspielerin Mae West zu sagen.

Eastman ist schon lange tot, er starb am 28. Mai 1990 nicht mal 50jährig in einem New Yorker Krankenhaus, multiples Organversagen. Niemand wusste davon, sein Leben endete in Einsamkeit, Eastman war, den Drogen verfallen, schon Jahre zuvor aus dem Konzertbetrieb verschwunden. Ihm wurde irgendwann die Wohnung gepfändet, dabei gingen wohl zahlreiche unveröffentlichte Kompositionen und Entwürfe unwiederbringlich verloren. Ganz allmählich erst setzte im neuen Jahrtausend seine Wiederentdeckung ein. Richtig — Wiederentdeckung, denn in den 1970er Jahren schien Eastman alles mitzubringen, was es zu einer Karriere in der Avantgarde bedarf: Er wurde aufgeführt und bewundert, er war auch ein glänzender Musiker (Pianist und Sänger), ja Schauspieler von beeindruckender Stimmgewalt. Er hatte prominente Förderer, und machte sich prominente Feinde — auch nicht schlecht: Ein Stück von John Cage performte er im offen homoerotischen Gestus, was den schwulen, aber vielleicht doch auch prüden Cage zutiefst erschütterte.

Jetzt kommt Eastmans Musik erneut nach Köln, und wieder ist der Kontext ungewöhnlich. »Stay On It«, eines der bekannten Frühwerke Eastmans, das Ensemblestück stammt aus dem Jahr 1973, wird auf dem Week-End Fest in der Stadthalle Köln-Mülheim aufgeführt. Die diesjährige Festival-Ausgabe ist mit Auftritten von Flohio, Caterina Barbieri, Mulatu Astatke oder Gilberto Gil reich an Höhepunkten, aber das Eastman-Project ist besonders, ist exklusiv und rangiert jenseits aller Kategorien. Jazz? Pop? Avantgarde? Once more: just organic music.

Kurator Jan Lankisch war Anfang des Jahres bei seinen Recherchen auf Eastman gestoßen, hatte sich in seine Musik verliebt und entdeckte in dem hymnischen »Stay On It« ein Stück, das von Enthusiasmus, vom Weitermachen und der Weigerung aufzugeben spricht — ein Stück über unsere Zeit. In Jorik Bergman fand er eine Musikerin und Arrangeurin, die bereit dazu war, mit einem von ihr eigens zusammengestellten — weiblich besetzten — Ensemble eine Fassung von »Stay On It« für das Week-End Fest zu erarbeiten.

Sie lebt und arbeitet in Köln, ist Flötistin und hat schon häufig mit großen Ensembles zusammengearbeitet. »Ich bin Jazz-Musikerin«, sagt sie im Interview, »und die Musik von Eastman ist kein Jazz. Aber ich kann mich ihr aus meiner Perspektive nähern und so verhindern, dass sie steif und irgendwie ›typisch klassisch‹ aufgeführt wird.« Die Musikerinnen hat sie aus der (Kölner) Jazz-Szene ausgewählt, sie bringen die Fähigkeit, sagt sie, zu improvisieren und sich maximal offen zu Eastmans Komposition zu verhalten.

Aber wieviel Offenheit — oder Freiheit im Zugriff — erlaubt Eastmans Musik tatsächlich? »Das ist eine wichtige Frage für mich«, sagt Bergman. »Ich arrangiere das Stück, also kommt automatisch meine eigene Stimme mit hinein. Aber die Grundlage meiner Arbeit ist Respekt. Der erste Schritt ist, das zu spielen, was Eastman aufgeschrieben hat und sich dann zu überlegen, wie das zu uns Musikern passt.« Für diesen zweiten Schritt sind Jazzmusiker in der Tat ideal, weil sie Spontaneität und improvisatorische Flexibilität mitbringen. Eastman selber hatte einst mit Musikern, wie dem legendären Flötisten Petr Kotik, zusammengearbeitet, die über ausgeprägte improvisatorische Skills verfügten. Viele Stücke aus der New Yorker Underground-Schule sind nicht »perfekt« ausnotiert, sondern wurden von den Komponisten — etwa Glenn Branca, Rhys Chatham oder eben Eastman — erst in enger Zusammenarbeit mit freien Ensembles realisiert.

Eines der letzten bekannten Stücke Eastmans stammt aus dem Jahr 1981 und heißt »The Holy Presence of Joan d’Arc«. Im Programmtext zur Uraufführung verstand er das Werk als »eine Mahnung an diejenigen, die glauben, sie könnten Befreier durch Verrat, Bosheit und Mord zerstören. Wie alle Organisationen, insbesondere Regierungen und religiöse Organisationen, unterdrücken sie, um sich selbst zu erhalten. Ihre Methoden der Unterdrückung sind vielfältig. Aber wenn sie feststellen, dass ihre subtileren Methoden versagen, greifen sie zum Mord. Selbst jetzt, in meinem eigenen Land, meinem eigenen Volk, meiner eigenen Zeit, gibt es immer noch grobe Unterdrückung und Mord.«

Kein Zweifel, Eastman verstand seine Musik als politisch — als Ausdruck einer Bewegung der Befreiung, die eine soziale sein sollte und in seinen Stücken als ästhetische vorweggenommen wird. »The Holy Presence of Joan d’Arc«, geschrieben für mehrere Celli, entwickelt sich aus dem Spiel von Wiederholung und Schichtung: Es fängt so gravitätisch an wie ein moderner Trash-Metal-Song (man kann sich anstatt der Celli sehr gut sägende, hämmernde E-Gitarren vorstellen) und verlässt dann die Monotonie. Es öffnet sich ein weites Panorama aus immer wiederkehrenden melodischen Elementen, aber in stets anderen, meistens dissonanten, Konstellationen, die von dem ursprünglichen rhythmischen Impuls mal eindeutig, mal versteckt zusammen­gehalten werden. »Es ist bemerkenswert, in welchem Maße Eastman ein allmäh­liches Kontinuum zwischen völliger Einfachheit und Kakophonie aufbauen konnte«, schreibt sein Weggefährte Kyle Gann über das Stück, »es ist der Schlüssel zu seiner unverwechselbaren Ästhetik.«

Jorik Bergman bestätigt das für »Stay On It«: »Es gibt generell diesen Groove, der ist durchgehend, er macht diese Musik sehr körperlich. Es ist definitiv keine ›weiße‹ Ästhetik«, sagt sie. Darin liege das implizit Politische seiner Musik. Auch dass die Stücke den Interpreten die Freiheit erlauben, ihren Zugang zum Groove zu finden, dass sie einen kooperativen Prozess voraussetzen, macht sie, wenn auch nicht offensichtlich, politisch: Hier wird keine Genie-Ästhetik geheuchelt, diese Musik entsteht gemeinsam.

Bergman ist Jahrgang 1996, selbst als der große Run auf Eastmans Musik einsetzte, etwa um 2015, war sie noch sehr jung. Wie nimmt sie aus der Perspektive der Nachgeborenen das Stück wahr? »Es klingt anders als die Neue Musik zu ihrer Zeit. Es fehlt zum Beispiel die Elektronik, die damals sehr gefragt war und häufig eingesetzt wurde. Ich mag es, dass das Stück so geerdet klingt, dadurch klingt es vielleicht ›älter‹ als andere Musik aus dieser Zeit, gleichzeitig sind die Ideen hinter diesem Stück absolut zeitgemäß, sie könnten von heute stammen.« Eastmans Musik ist so fremd wie vertraut, spricht mit all ihrer Verve direkt zu uns. Sie liegt — auch heute — quer zu allem Zeitgeist, gerade darin liegt ihre sinnliche wie politische Qualität.

Mittlerweile vergeht kein Jahr ohne eine neue Eastman-Einspielung, es ist gelungen, bislang unbekannte Kompositionen von ihm zu entdecken, sie werden heute regulär verlegt. Eastman ist kanonisiert, was auf jeden Fall den Vorteil hat, dass es für Jüngere immer einfacher wird, seine Musik und ihr radikales Selbstverständnis zu entdecken. Geheilt ist die Wunde, die sein Verschwinden 1983 und sein schäbiger Tod hinterlassen haben, aber nicht. Repressive Zeitumstände — anhaltender Rassismus und sexuelle Diskriminierung, der zynische Neoliberalismus unter Reagan — trafen auf persönliches Unglück, Eastmans Drogenabhängigkeit: So viel kann man sagen, alles weitere aber bleibt rätselhaft und darum tragisch und traurig.

Week-End Fest

8.–10.10., Stadthalle Köln-Mülheim
»Stay On It« wird am 8. aufgeführt

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