Fundgrube neuer Perspektiven

Beim Film Festival Cologne steht die Realität auf dem Prüfstand — anhand von Bildern, die ihre eigene Macht entfalten

France de Meurs (Léa Seydoux) hat alles im Griff und am besten sich selbst. Eine überlebensgroße Erscheinung aus gemeißelten Wangenknochen, perfekt nachgezeichneten Lippen und exquisiter ­Garderobe, versteht es Frankreichs beliebteste Nachrichtenmoderatorin im Fernsehstudio gewinnend zu lächeln und unter Beschuss im Krisengebiet Tränen zu produzieren. Und wenn die Lage vor Ort nicht den Sehgewohnheiten des Publikums entspricht, hilft sie einfach nach: France erteilt bewaffneten Freiheitskämpfern Regieanweisungen und jagt ihr Kamerateam quer durch von Scharfschützen beschossene Dörfer.

Die Mediensatire »France« von Bruno Dumont feierte ihre Premiere kürzlich in Cannes und ist nun beim Film Festival Cologne zu sehen. Im diesjährigen Programm ist sie dort in bester Gesellschaft. In Arthur Hararis »Onoda« harrt ein japanischer Soldat unbehelligt vom Ende des Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang im philippinischen Dschungel aus. In Nikias Chryssos’ »A Pure Place« ergeht sich eine Sekte in verstrahltem Reinheitswahn — und in »Bergman Island« erzählt Mia Hansen-Løve von einem Autorenpaar, das überzeugt ist auf der Insel Fårö vom Geist des großen Ingmar Bergman erfasst zu werden. Die Hölle, das sind die anderen. Wollte man die Filmfiguren dieses Jahrgangs auf eine Therapiecouch setzen, müsste man ihnen samt und sonders Probleme damit bescheinigen, ihr Selbstbild mit der Realität abzugleichen.

In Andreas Kleinerts Biopic »Lieber Thomas« etwa spielt Albrecht Schuch den Schriftsteller Thomas Brasch als Mann, der mit seinem der Partei ergebenen Vater ebenso hadert wie mit seinen eigenen Ansprüchen — und mit dem real existierenden Sozialismus genauso wie mit der Alternative. »Wir sind mit’m Kopp durch die Wand. Nu steh’n wa inner Nachbarzelle«, sagt er zu Freundin Katharina Thalbach (Jella Haase), als die beiden nach ihrer Ausreise aus der DDR 1976 den Ku’damm entlang laufen. Anfangs erinnert »Lieber Thomas« noch an den Stil der Nouvelle Vague, mit seinen assoziativ collagierten Montagen aus alten Filmen, dokumentarischen Aufnahmen aus Pioniersommerlagern und vom Prager Frühling. Später häufen sich Genre-Einsprengsel. Wie ein alptraumhafter Kurzfilm im Film mutet eine heftige Schießerei an, deren Bilder einen verfolgen wie den Autor sein unerfüllter Traum vom endlich vollendeten Kriminalroman. Weil doch, so sagte es Brasch 1981 bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises, die Kriminalität der »urwüchsigste Ausdruck der Auflehnung« gegen menschenunwürdige Verhältnisse sei.

Ortswechsel: An den Ausläufern von Sandusky, Ohio, fristet Pat sein Dasein in einem schmucklosen Pflegeheim. »Swan Song« von Todd Stephens ist ein bisschen wie David Lynchs »The Straight Story«, aber mit Udo Kier als schwulem Friseur. Als eine ehemalige Kundin stirbt, begibt er sich auf den Weg durch die Stadt, um sie ein letztes Mal für ihre Beerdigung zu frisieren und wird dabei mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert: Einem Dasein im hellen Widerschein der High Society, mit Ambitionen bis zum Mond und letztlich doch als großer, paillettenbesetzter Fisch im kleinen Teich. Unterwegs webt Stephens kleine Beobachtungen über die Geschichte (und die ungewisse Zukunft) der Schwulenbewegung ein. »Wo werden wir tanzen?«, fragt Pat, als er erfährt, dass die Gay-Bar schließt, in der er früher performte.

Mit unerwartet ausgelassenem Humor endet derweil Mahamat-Saleh Harouns »Lingui«. Unerwartet, weil das Drama aus dem Tschad eher als tränenschweres Weltkino beginnt, wie man es im Wettbewerb der Berlinale erwarten würde. Es erzählt die Geschichte der alleinerziehenden Amina (Achouackh Abakar), deren 15-jährige Tochter nach einer Vergewaltigung eine Abtreibung wünscht. In ihrem streng muslimisch geprägten Land ist das nahezu unmöglich, und mit jeder Minute ballt sich Aminas sanftes, duldsames Gesicht mehr zur Faust. Sie hat genug vom Iman, der sie wie ein Schulmädchen schilt, weil sie nicht rechtzeitig in die Moschee kommt; genug von Männern, die über sie urteilen. Am Ende entlarvt Haroun mit Tanz, Gesang und befreitem Gelächter die patriarchalen Traditionen der Gesellschaft als reine Illusion — zum Schein aufrechterhalten und zugleich so mutig wie clever unterlaufen von solidarisch zusammenarbeitenden Frauen.

Wenn es darum geht scheinbare Gewissheiten in ihre Komplexitäten aufzulösen, sind auch die Dokumentarfilme des Festivalprogramms eine wahre Fundgrube. Auf beeindruckende Weise tun dies etwa Laurentia Genske und Robin Humboldt in »Zuhurs Töchter«. Sie begleiten zwei trans-Schwestern aus der Nähe von Stuttgart durch ein Labyrinth aus Beratungen, ­Therapien, Operationen, um ihr Geschlecht ihrem Selbstverständnis anzupassen. Die Mauer, die die Filmemacher dabei anfänglich zwischen den Protagonist*innen und ihrem konservativ muslimischen Elternhaus konstruieren, fällt spätestens in sich zusammen, als der Vater erzählt, er sei aus Syrien geflohen, weil er es nie über sich gebracht hätte den Regeln seiner alten Gemeinschaft entsprechend seine Kinder zu töten. Der neue Lebensraum der Familie ist eine bedrückend kleine Welt, beengt durch die Wohnverhältnisse, Sprachbarrieren, Vorurteile der Nachbarn, der Gesellschaft. Umso sagenhafter, wie selbstverständlich die Schwestern ihren Weg gehen und dabei vermeintliche Widersprüche einfach einebnen: »Ich nehme die Hormone noch ein Jahr, dann bin ich perfekt — inshallah!«

Daneben ist »Endlich Unendlich« die ultimative Realitätsverweigerung. Ein Dokumentarfilm von Stephan Bergmann über die Visionäre des Transhumanismus, die Krankheit und Tod nicht mehr als unausweichliches Ende akzeptieren. Sie unterziehen sich experimentellen Gentherapien, implantieren Chips, die rund um die Uhr sämtliche Vitalwerte überwachen und bereiten sich auf jahrzehntelangen Kryoschlaf vor. Obwohl ­formal eher an den Konventionen einer Fernsehdokumentation orientiert, beschert einem »Endlich Unendlich« eine Abfolge kleiner mentaler Explosionen — umso ­stimulierender in einer Zeit, in der selbst umfassend erforschte Impfstoffe vehemente Skeptiker auf die Straßen treiben.

Ein buchstäbliches uncanny valley ist am Ende von Salomé Jashis »Taming the Garden« zu sehen: Ein Garten, in dem ein Bambushain neben Rotholz und Eichen steht, die Disneyland-Version eines Waldes. Ein mächtiger Mann sammelt Bäume aus aller Welt und lässt sie in dieses Eden verpflanzen. So auch einen riesigen Baum aus einem georgischen Bergdorf, der im Verlauf des Films aus dem Erdreich und auf Sattelschlepper gehoben, an die Küste gefahren und auf eine Fähre umgesetzt wird. Ein absurd größenwahnsinniges Unterfangen, dass Jashi umkommentiert beobachtet. Nur manchmal wehen die Gespräche der Umstehenden herüber, Verteidiger der am Wegesrand gefällten Bäume, die dort eigentlich das Land gegen harsche Winde ­verteidigen sollen. Sie spekulieren über die Beweggründe des Reichen, deuten Korruption an. Doch das Bild eines uralten Baums mitten im Meer trotzt all unseren Vorstellungen von der Realität. Ein Bild wie für das Kino gemacht.

Film Festival Cologne – Die Macht der Bilder

Das Publikum des Film Festival Cologne erwartet neben dem facettenreichen Film– dieses Jahr ein Rahmenprogramm, das sich auf verschiedene Art mit der »Macht der Bilder« beschäftigt. Der Fokus liegt natürlich auf dem Bewegtbild. In Screenings und Präsentationen werden die Schnittstellen zwischen Social Media, TV und Kino untersucht. Mit dabei ist auch der Theatermacher und Medienkünstler Arne Vogelgesang, dessen Doku »This Is Not A Game« die Ursprünge von Q und QAnon erklärt. Ein Urban GIF Parcours mit 50 Screens in Läden zwischen Filmpalast und Belgischem Viertel verknüpft Diskussionen um digitale Kultur und öffentlichen Raum. Und wie bereits im letzten Jahr geht es beim »Global Day« um die Frage, welche Rolle bewegte Bilder für entwicklungspolitische Projekte spielen.

Do 21.10.–Do 28.10.
filmfestival.cologne