Nematullah Mohammadi lebt seit sechs Jahren in Köln und hofft darauf, dass er endlich eine feste Aufenthaltsgenehmigung bekommt

»Ich stehe auf einer Todesliste«

Seit der Machtübernahme durch die radikal-­islamistische Talibanbewegung und dem Abzug der westlichen Truppen sind die Menschen in Afghanistan nicht nur der Rache der Terroristen ausgeliefert, es droht auch eine humanitäre Katastrophe. Wir haben die Geschichte von Nematullah Mohammadi, der mittlerweile in Köln lebt, aufgeschrieben. Es ist eines von unzähligen Fallbeispielen für das Grauen, das den Menschen dort jetzt widerfährt.

»Ich heiße Nematullah Mohammadi, bin 23 Jahre alt und lebe seit sechs Jahren in Köln. Aber es ist nur mein Körper, der hier ist. Denn mein Herz und meine Gedanken sind in Afghanistan. Ich wurde in der Provinz Daikundi geboren, in einem Ort namens Kejran, etwa 200 Kilometer nördlich von Kandahar in Afghanistan. Ich habe in Köln mehrere Deutsch-Kurse absolviert, und seit kurzem arbeite ich bei einer Döner-Kette. Zwar wurde vor vier Monaten mein Asylfolgeantrag abgelehnt. Aber jetzt, wo ich einen festen Job habe, hoffe ich, dass ich in Deutschland bleiben darf.

Nach meinem Abitur in Afghanistan musste ich mich damals verstecken und dann auch fliehen. Denn auch nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes war die Region Daikundi, wo ich aufgewachsen bin und wo noch meine Eltern und Geschwister leben, niemals sicher. Alle paar Wochen überfielen die Taliban unser Dorf und kämpften gegen Polizei und die Bevölkerung. Dann wurden sie zurückgedrängt. Doch zwei, drei Wochen später kamen die Taliban-Kämpfer wieder.

 Die meisten Menschen aus Daikundi gehören zur Minderheit der Hazara oder der Baluchi, so wie meine Familie. Als religiöse oder ethnische Minderheit werden wir seit Jahrzehnten diskriminiert und verfolgt. Es kam immer wieder zu Massakern. Die meisten Belutschen leben im Westen Pakistans oder im Südosten Irans. Im südlichen Afghanistan leben nur etwa 100.000 Belutschen, damit sind wir eine der kleinsten Ethnie in dem Vielvölkerstaat. Zudem hatte mein Vater früher bei der Polizei gearbeitet und viele Jahre gegen die Taliban gekämpft. Ich habe als kleiner Junge mehrmals gesehen, wie er fast zu Tode geprügelt wurde. Einmal kam ich abends nach Hause und er lag blutüberströmt auf dem Boden. Mehrere meiner Verwandten, darunter ein Cousin meines Vaters, wurden von den Taliban getötet. Ich erinnere mich, dass fast jeden Tag Menschen zusammengeschlagen wurden, dass Schüsse fielen oder dass es Bombenangriffe der Taliban gab. Einmal fuhr ich auf meinem Motorrad hinter einem Polizeiauto, das plötzlich explodierte.

Vor sechs Jahren musste ich fliehen, die Taliban drohten, auch mich zu töten. Ich bin über den Landweg in den Iran geflüchtet. Aber der Iran schickt Geflüchtete zurück — bis heute, obwohl die Taliban erneut die Macht übernommen haben und alle Menschen in Afghanistan ihnen ausgeliefert sind und ihnen sogar der Tod droht. Ich habe mich vom Iran dann in die Türkei durchgeschlagen. Von dort bin ich nach Deutschland gekommen.

Ich habe Angst um meine Familie. Sie mussten ihr Haus in Kejran verlassen und sind vor den Taliban in die Berge geflüchtet, um sich zu verstecken. Das Haus ist bestimmt schon geplündert worden. Meine Familie hat nur einen Rucksack mit ein paar Sachen mitnehmen können und einen Schirm gegen die Sonne. Tagsüber ist es unerträglich heiß und nachts wird es sehr kalt. Meine Familie hat kein festes Lager in den Bergen, sie müssen sich jeden Tag ein neues Versteck suchen, damit die Taliban sie nicht finden. Wenn sie meine Familie finden, werden sie sie töten. Ich habe auch drei kleine Geschwister: zwei, fünf und sieben Jahre alt.

Sobald es dunkel ist, versucht mein Vater über die Berge in die Stadt zu gelangen und Essen zu besorgen. Aber er ist alt und krank. Es gibt Tage, an denen sie den ganzen Tag nichts zu essen oder zu trinken haben. Meine kleinen Geschwister weinen vor Hunger und Angst. Mit ihnen zu telefonieren, ist sehr schwierig, weil sie in den Bergen eigentlich eine Satellitenantenne brauchen, die sie nicht haben. Ich weiß nicht, ob sie jetzt überhaupt noch leben. Ich weiß nicht, was morgen kommt. In Afghanistan liegt Leben und Tod so nah beieinander.

Ich habe auch fürchterliche Angst um meine Frau. Sie lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in Herat, im Westen Afghanistans. Früher hat meine Frau dort als Lehrerin in einer Mädchenschule gearbeitet. Nach dem Ende des ersten Taliban-Regimes war es in Herat vergleichsweise sicher, und die Menschen hatten Hoffnung. Jetzt aber darf sie ihren Beruf nicht mehr ausüben, und die Mädchen bekommen keinen Unterricht mehr.

Vor ein paar Tagen rief mich meine Frau aus Herat an. Sie hat geschrien, dass ich ihr helfen und sie aus Afghanistan herausholen soll. Die Taliban haben nach der Machtübernahme in allen Häusern einen Brief abgegeben. Darin stand, dass sie alle Mädchen und Frauen zwischen zwölf und 45 Jahren, die nicht verheiratet sind oder deren Ehemann woanders lebt, abholen werden. Sie werden sie abholen und zur Ehe zwingen. Zwangsheirat mit einem Taliban: Ich sterbe bei dem Gedanken daran. Ich habe die Aufgabe, mich um meine Frau zu kümmern. Aber was soll ich tun? Ich kann nicht zurück nach Afghanistan. Meine Eltern haben vor ein paar Monaten einen Drohbrief bekommen: Weil ich nach Deutschland geflüchtet bin und weil mein Vater als Polizist gearbeitet hat, stehe ich auf einer Todesliste der Taliban. Wenn ich zurück nach Afghanistan zu meiner Frau komme, töten sie mich. Meine Eltern sind mit dem Brief zur Polizei gegangen, die es damals noch gab. Aber dort hat man ihnen gesagt, dass sie mich nicht beschützen könnten. Nachts liege ich nur noch wach. Ich hoffe, dass die westlichen Regierungen die Taliban nicht anerkennen werden. Die Taliban sind Terroristen. Jetzt, wo die letzten westlichen Truppen abgezogen sind, werden sie ihr wahres Gesicht zeigen. Tausende Menschen wurden zurückgelassen, sie alle leben nun in ständiger Angst vor dem Tod.

Hier in Deutschland habe ich erst erkannt, was Leben eigentlich bedeutet. Ich habe einen Anwalt genommen und gehe regelmäßig zu Flüchtlingsorganisationen, die mich beraten. Ein großes Problem ist, dass ich derzeit keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, sondern nur eine Duldung habe. Damit meine Frau überhaupt irgendeine Chance hat, zu mir nach Deutschland zu kommen, brauche ich aber einen festen Aufenthaltstitel. Mein Anwalt ist schon seit Monaten in Kontakt mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und hat dort auch die Drohbriefe, die meine Eltern und ich bekommen haben, vorgelegt. Wir haben jetzt gegen die Ablehnung meines Asylfolgeantrags geklagt, auch weil wir die Drohbriefe als neues Beweismittel vorgelegt haben. Bislang haben wir aber keine Antwort erhalten. Ich verstehe das nicht: Warum bekomme ich keine feste Aufenthaltsgenehmigung? Alle wissen jetzt doch, wie lebensgefährlich es in Afghanistan ist.«