Die Systemfrage

Materialien zur Meinungsbildung

Schlechtes Benehmen zu rügen, war immer üblich. Für Verstöße gegen Gesetz und Ordnung gibt es Polizei und Gerichte, für schlechtes Betragen Erziehungsberechtigte, Nachbarn und das Internet. Aber Hinweise wie »Erst kauen, dann reden« oder »Finger aus der Nase, Holger!« galten zwischenzeitlich als etwas kleinkariert und spießig. Nun, die schlechten Angewohnheiten und die Kritik daran sind geblieben. Aber es ist eine Frage des Empfindens und des Geschmacks, welches Benehmen man heute dazu zählt. Eine Bundes­kanzlerin mit Finger in der Nase ist kein Problem, aber mit Gänsestopf­leber im Mund durchaus. Die Dinge werden weniger ästhetisch als poli­tisch betrachtet. Alles ist politisch: Essen und Einkaufen, Kunst und Unterhaltung, die Möblierung einer Wohnung ebenso wie die Kleidung, die man trägt, natürlich auch die Wörter, die man wählt, und die Fragen, die man stellt oder sich verkneift. Ein hässliches Lied über zehn unbekleidete Hairstylistinnen ist nicht »einfach unmöglich!«, sondern politisch falsch. Ich finde, so kann man das sehen.

Wie aber spielt Ästhetik und Politik zusammen? Klar, es gibt internationale Symposien dazu. Vielleicht reicht aber auch ein Satz: »Wir kriegen diesen ganzen Scheiß mit Macht und Geld doch vom System ins Gehirn gefickt!« Das Sch-Wort und das F-Wort, entschuldigen Sie bitte, aber es ist ein Zitat. Der Satz hat Wumms. Er wird auf Zustimmung dort stoßen, wo Menschen lieber das Haar in der Suppe suchen, anstatt sie auszulöffeln, wenn man sie ihnen vorsetzt. Der Satz stammt von Atze und Pit, die immer mit ihren Hunden vor Trink­halle Hirmsel rumsitzen, und ich mag die beiden, und Atze und Pit mag ich auch und auch den Satz. Er ist nicht ästhetisch, klingt aber politisch, und er ist achtsam und niederschwellig formuliert! Man versteht ihn ohne akademischen Abschluss! Oder doch nicht? Denn wer oder was ist das »System«, das so übergriffig wird?

Geböte es nicht die Fairness, das System zu den Vorwürfen Stellung nehmen zu lassen? Man sollte doch immer auch die Gegenseite hören, sonst wird man engstirnig. Sagen die Nachbarn, Frau Schröder habe den bösen Blick, klaue die Zeitung aus dem Briefschlitz und fliege nachts auf dem Besenstiel, würde ich Frau Schröder erst mal zur Rede stellen, bevor wir den Scheiterhaufen bauen. Aber wer ist nun das System? Welches Kot ejakuliert, wie Atze und Pit behaupten?

Es gibt das Planetensystem, aber ich könnte nichts Schlechtes über es sagen. Gleiches gilt für das Londoner System, eine gute Idee für die weißen Steine, versuchen Sie es mal (1.d4, 2. Lf4)! Es gibt noch das Gesundheits- und das Bildungssystem, während der ­Corona-Krise wurde es oft kritisiert. Da wären Atze und Pit ziemlich Mainstream, kann das sein? Oder meinen sie das Ökosystem? Ihr Satz mit dem Sch-Wort und dem F-Wort ruft ja viel Biologisches auf. Aber Atze und Pit mögen doch ihre Hunde, Vertreter des Ökosystems! Hier kommen wir nicht weiter.

Was ist dann aber mit Macht und Geld? Offenbar werden sie ­verdaut, ausgeschieden und dann... alles kein vorbildliches Verhalten. Bloß frage ich mich, ob es überhaupt das »System« ist, dass das tut. Oder ob nicht wir es sind, die sich damit nur zu gern — um mal zurückhaltender zu formu­lieren — impfen lassen. Und zwar nicht so zögerlich, als wenn der Staat, also das politische System, uns zur Impfung ermuntert. Die neue Etikette besagt ja auch zurecht, dass man sich die Menschen nicht fehlgeleitet vorstellen soll, sondern als handelnde Subjekte. Deshalb sind Atze und Pit auch nicht bierabhängig, sondern Bier-User. Das haben sie mir deutlich zu verstehen gegeben, und dann laut gelacht, bis ihre Hunde bellten, bis Herr Hirmsel von Trinkhalle Hirmsel vor die Tür trat und darum bat, sie sollten sich bitte ordentlich benehmen.