Irgendwie geisterhaft-surreal: JJ Weihl

Künstliche Spiegel

JJ Weihl schickt uns mit ihrem Imprint Discovery Zone auf faszinierende Pop-Trips in die mystische Datendisco

JJ Weihl durfte ich zuletzt gleich zweimal live sehen. Zunächst präsentierte sie beim Pop-Kultur-­Fes­tival in Berlin an drei aufeinander folgenden Tagen ihre beeindru­cken­de Powerpoint-Präsentation-meets-Popkonzert-Performance »CYBERNETICA«, oder, wie sie es nennt: »Mein persönliches Tagebuch gemischt mit Werbung«. We­ni­ge Tage später in Wien trat sie im Rahmen des Waves-Festivals in der Canisius-Kirche auf; ganz alleine stand sie dort vorne im Kirchenschiff im Spotlight, sehr real und präsent, aber irgendwie auch geisterhaft-surreal.

»Die Art und Weise, wie wir sensorischen Input erfahren, ist so komplex, das Setting ist ein großer Teil davon«, beantwortet JJ Weihl meine Frage, inwieweit unterschiedliche Räume unterschiedliche Performances aus ihr kitzeln. »Ich liebe es, in ­Räumen aufzutreten, die nicht ­ausschließlich dafür gedacht waren, Konzerte zu geben.«

Man kennt die in Berlin leben­­de US-amerikanische Musikerin JJ Weihl vor allem als Sängerin der Modern-Pop-Formation Fenster. Vier Alben hat sie mit der Band aufgenommen und einen Film produziert. Aktuell ist Pause, einvernehmlich. »Für mich war es super wichtig, selbst herauszufinden, wer ich bin — sowohl persönlich als auch musikalisch«, führt Weihl aus. »Discovery Zone zu starten fühlte sich an, als würde ich einen existentiellen Sprung durch das Kaninchenloch ins Wunderland machen.«

Einige ihrer alten Bandkollegen sind elementar in Discovery Zone eingebunden. So hat Lucas Ufo (auch bekannt als World Brain) gemeinsam mit dem Produzenten ET (der auch das Fenster Album »Emocean« produziert hat) das Album »Remote Control« co-produziert. Und doch sei der Unterschied markant, führt Weihl aus: »Fenster ist ein unglaublich kollaboratives Projekt. Wir haben versucht, unsere eigene kleine Welt zu kultivieren, indem wir unsere Individualität transzendieren und als Teile einer Maschine etwas Gemeinsames erschafft haben. Mit Discovery Zone habe ich eine viel persönlichere und introspektivere Arbeitsweise.« Deswegen sei es für die Genese von »Remote Control« so wichtig gewesen, dass sie alle Demos alleine produziert habe. Ein Sprung ins kalte Wasser, da sie zu Beginn eigentlich nicht dazu in der Lage gewesen sei — aber: was nicht ist, das muss halt werden! Auf diesem Fundament konnte sie wieder die alten Weggenossen einbeziehen, um die Klangwelt zu verfeinern, beispielsweise über neu aufgenommen Gesangsspuren oder zusätzliche von Lucas eingebrachte Melodien und Arrangement-Twists.

Spricht man mit JJ Weihl über ihre Musik, wird schnell deutlich, wie selbstanalytisch sie vorgeht. »Was immer wir machen und erfahren, steht in Beziehung zu allem anderen. Es ist für mich unmöglich, darüber nachzudenken, Kunst zu schaffen — oder überhaupt ein Mittagessen zuzubereiten —, ohne mir der Metaprozesse bewusst zu sein, die integrale Bestandteile dessen sind, was gemacht wird. Auf diese Weise, denke ich, besteht ein Teil meines Prozesses darin, diese unsichtbare Umhüllung irgendwie sichtbar zu machen — oder besser gesagt, die Metaebene in die Arbeit selbst zu integrieren.«

Das dies nicht nur wohl klingende intellektuelle Worte sind, sondern treffend die musikalische Welt von Weihl beschreibt, davon zeugte zuletzt ihr für das Pop-Kultur-Fes­tival in Berlin entworfenes Performance-Drama »Cybernetica«. In dem Stück geht es um die Suche nach dem Kern der Identität der darstellenden Figur, die sich im Geiste dieser Erkenntnissuche immer tiefer in ihrer digitalen Vergangenheit und Präsenz gräbt. »Für ›Cybernetica‹ habe ich die private Organisation The Quiets beauftragt, alle meine On- und Offline-Daten zu sammeln«, berichtet Weihl. »Es war eine surreale und mystische Erfahrung, mich durch den Spiegel dieser Daten zu sehen.« Als Zu­schau­­er:in sieht man während der Per­formance auf den Screens und in Hologrammen das echte sowie das im Netz dokumentierte und inszenierte Leben von Weihl aufblitzen. Irgendwie spooky — und dennoch rät die Künstlerin uns allen, es ihr gleich zu tun: »Es ist, als hätten mir mein Leben zugleich eine Hellseherin, eine Therapeutin und einMarketingdirektor analysiert.«

Dass »Cybernetica« auf ihrer Biographie beruht, sei zwingend gewesen für das Projekt. »In den aktuellen virtuellen Landschaften werden die Räume zwischen Inhalten und Werbung immer weniger unterscheidbar. Indem ich die Daten wieder zusammenfüge, setzt eine brutale Erkenntnis ein — diese ist nötig, um mich selbst wieder zu finden und meine Entscheidungsfreiheit zurück­zugewinnen und so eine Katharsis zu durchlaufen.« Während der Performance ist dies der Moment, wo die Protagonistin erkennt, dass sie zugleich Darstellerin ihres Lebens ist als auch Regisseurin. »Die Wahrheit, die diesem Moment inne wohnt, zerstört die Illusion, in einem Produkt gefangen zu sein — und befreit.«

Inspiriert wurde Weihl zu »Cybernetica« durch einen Onlinekurs, den sie während der Pandemie bei School of Machines absolviert hat. Der von Kit Kuksenok gegebene Kurs hieß »Radical Imperfection in Time-Tracking« und führte in die Konzepte existenzieller Daten und Datenvisualisierungen ein. Für Weihl der Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit Konzepten wie Realität, Repräsentation und Simulation. »Ich war wie alle in diesem tiefen Lockdown gefangen und verbrachte viel Zeit online — also beobachtete ich die profanen Aspekte der Online-Existenz wie Werbung, Pornografie oder Algorithmen genau und was sie über die Menschen preisgeben, die sie erschaffen.« Die Ableitungen aus diesen Beobachtungen mündeten im Drehbuch zu »Cybernetica«, für das Weihl zudem mit den Mitgliedern ihrer virtuelle Lesegruppe kooperierte, zu der u.a. Copyright Linda Fox (aka Dave Biddle) gehört, Musiker und Gelehrter der Kybernetik. Es verwundert nicht, dass die Show — was den meta-theo­retischen Überbau angeht — locker mit Univorlesungen mit­halten kann.

Selbiges gilt für ihr Debütalbum »Remote Contro«, für dessen Titelstück sie den Roboter Sophia einen Dialog mit ihren Schöpfe­r:in­nen führen lässt, ein Setting, das Erinnerungen an »Bladerunner« weckt. Inspiriert wurde der Track von einem cleveren Werbespot der Firma Hanson Robotics, indem die AI-Fähigkeiten des Roboters überinszeniert wurden — eine Inszenierung, die Weihl nicht blenden konnte: »Obwohl Sophia in der Lage ist, Fragen zu beantworten und als intelligente Maschine aufzutreten, ist sie nur ein Spielzeug, das unsere eigenen Ängste und Wünsche, was KI ist oder sein sollte, widerspiegelt. So denke ich bei den meisten Formen der Technologie. Sie sind Spiegel, die uns zeigen, wozu wir in diesem Moment fähig sind, oder Kristall­kugeln, die uns zeigen, wie wir uns die Zukunft vorstellen.«

Wichtig für das Verständnis von Weihl ist ihre soziale und künstlerische Community in Berlin. Sie selbst lebt zwar in Wedding, ist aber eng vernetzt mit dem in Neukölln ansässigen Label Mansions and Millions, auf dem neben ihr auch Künstler wie DENA, Better Person oder Magic Island veröffentlichen. »Für mich existiert nichts in einem Vakuum«, beschreibt Weihl ihre Arbeitsweise. »Meine Freund:innen halten mich am Leben. Ich liebe es, mit anderen zusammenzuarbeiten und einen Blick in ihre Lebenswelten zu werfen.«

Liest man ihre Texte, so lernen wir jemanden kennen, der nicht blind vertraut, sondern die Welt und auch das eigene Umfeld hinterfragt. »Is it in you? Or are you in it? (…) Did it break you? Can you trust it?« heißt es in dem Song »Pattern Recognition«. »Ich kann den Menschen und der Welt nur insofern vertrauen, als ich mir selbst vertraue«, führt sie aus. »Wir alle wurden schon verletzt, wir alle haben ein Trauma. Ich habe meine persönlichen Erfahrungen mit Tragödien und Verlusten, es gab eine Zeit in meinem Leben, in der mein Vertrauen in die Logik des Universums beschädigt und verzerrt wurde. Aber als ich meine Trauer im Laufe der Zeit verarbeitete, verwandelte sich das Chaos, das ich nihilistisch interpretiert hatte, in eine viel komplexere Sichtweise. Ich habe langsam wieder Vertrauen in die Menschen und die Welt gewonnen, habe gelernt, mir selbst zu vertrauen und die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht kontrollieren kann — und mit den Dingen, die ich kann, vorsichtig umzugehen. Das gilt auch für kreatives Arbeiten. Wenn ich mich unsicher fühle, fällt es mir schwer, mich anderen zu öffnen. Wenn ich großzügig und sanft zu mir selbst bin, kann ich auch anderen so begegnen.«

Wie für viele Künstler:innen war auch für JJ Weihl die Pandemie bedingte Auszeit eine Art kalter Ent­zug vom stetigen Zyklus aus Plattenaufnahmen und Tourneen. Plötzlich so lange Zuhause gewesen zu sein, beschreibt sie als »harte aber auch produktive Konfrontation mit ihrem Leben und dem Durcheinander in diesem«, aber auch mit der Welt um ihre eigene Existenz herum: »Ich beobachtete, wie die Welt immer mehr geteilt wird. Die Leute, denen es schon ziemlich gut ging, kamen gut mit der Situation zurecht — und für die Leute, die es bereits schwer hat­ten, wurde es oft noch schlimmer.«

Trotz des negativen Klangs dieser Worte, hegt Weihl eine gewisse Hoffnung, dass die Menschen aus diesen kollektiven Erfahrungen etwas gelernt haben und die notwendigen Transformationsprozesse einleiten, um die dringend notwendigen Anpassungen zu meistern. »Einerseits befürchte ich, dass sich bestimmte Probleme und Kluften vertieft haben, während die Menschen weiter in die Wahnvorstellungen versinken, die von Algorithmen propagiert werden, mit denen Unternehmen ihre eigenen Agenden programmieren. Anderseits ist es aber doch so, dass wir eine echte Chance bekommen haben — denn niemand ist aus dieser Sache unberührt herausgekommen. Eine Krise ist eine große Chance für tiefreichende Veränderungen. Ich glaube, dass wir dazu in der Lage sind.«

Tonträger: Discovery Zone »Remote Control« (Mansions and Millions/Cargo) ist bereits erschienen