Auf dem Weg zu sich selbst: Pablo Held

So offen wie möglich

Der Pianist Pablo Held veröffentlicht mit »Embracing You« eine Hommage an seine Familie

Was passiert da? In eine flächige Synthesizer-Klanglandschaft werden Akkorde wie Stelen hineingetrieben, da baut sich ein Stück auf, eine Stimmung, die nicht unvertraut ist, intim, klanglich ganz offen, aber so gar nicht dem Jazz-Klischee entsprechend, wonach Pianisten ihre Solo-Einspielungen zum Nachweis ihrer Virtuosität und Traditions­verbundenheit vorzulegen haben. Und umgekehrt, mitten in einer verhangenen Ballade öffnet sich ein surreales Prisma aus elektronischen Klängen. Traditionsverbunden? Natürlich, es wird Monks »Ruby, My Dear« gegeben und »Face On The Barroom Floor« von Wayne Shorter, nur werden diese Stücke eigensinnig gespielt, sind Material, um eine andere Fantasie zu entfalten. Welche? Es ist die von Pablo Held.

Wer sich für Musik aus Köln interessiert, dem muss man Held nicht vorstellen: Der immer noch jugendliche Pianist, er wird nächsten Monat 35 Jahre, hat seit 15 Jahren mit seinem Trio (Robert Landfermann am Bass, Jonas Burgwinkel am Schlagzeug) eine einzigartige Reihe von Einspielungen vorgelegt. Einzigartig, weil diese Kontinuität im fluiden Jazz selten ist und ihr Wille zur Innovation ungebrochen. Zu ihren Ritualen gehört es, ohne Setlist auf die Bühne zu treten. Sie spielen keinen Free Jazz, aber ihre Musik ist von großer innerer Freiheit geprägt.

Aber jetzt muss man Held eben doch vorstellen: Denn »Embracing You« ist sein Debüt als Solist und das auf seinem eigenen Label Hopalit. Das Album stellt die Vorstellungen, die man von Helds Jazz hat, auf den Kopf: Er arbeitet mit Overdubs, hat sich mit Synthesizern bewaffnet, darunter das vorsintflut­liche Melltron, hat im vergangenen Jahr mehrere Studiosessions unter unterschiedlichen Bedingungen absolviert, aus vielen Stücken bloß eine Handvoll ausgewählt — und ist sehr offenherzig. »Embracing You« ist seiner Familie gewidmet, seiner Frau und seinen Kindern, weil sie alle in der Corona-Krise so eng zusammengehalten haben. »Embracing You« ist ein sehr nahbares Album geworden, als würde die Musik direkt nebenan spielen und nur für dich erklingen.

»Embracing You« ist dein erstes Solo-Album und es ist die erste Aufnahme, die Du auf Hopalit herausbringst. Du hast 15 Jahre für andere Labels veröffent­licht, warum jetzt ein eigenes Label?

Es war schon immer so, dass ich meine Arbeit dokumentieren und darum auch viel herausbringen möchte. In der Dichte wäre das bei vielen Labels gar nicht möglich, weil die auf Jahre hinaus ausgebucht sind. Irgendwann habe ich mir gedacht, wenn ich jetzt noch ein Jahr oder länger auf meine neue Platte warten muss, mir dann vielleicht das Artwork nicht so gut gefällt und ich mit einem Labelprogramm identifiziert werde, hinter dem ich selber nicht ganz stehe, dann kann ich doch gleich das tun, was ich schon auf anderen Ebe­nen tue: Ich habe eine eigene Konzertreihe, eine Interviewreihe — warum nicht auch ein eigenes Label? Ich bin dankbar, was ich von meinen früheren Labels alles bekommen habe, ich habe viel gelernt, durfte ausprobieren, aber jetzt konnte ich selber alles noch mal durchdenken: Wenn »Embracing You« erscheint, sieht es so aus, wie ich es möchte, es gibt nur die Stücke, die ich ausgesucht habe, sie klingen so, wie ich es im Kopf hatte. Und ich arbeite nur mit Leuten zusammen, die ich gut kenne, zu denen ich Vertrauen habe. Es ist alles sehr familiär — und ich kann kompromisslos arbeiten.

Hopalit wird ausschließlich Deinen Projekten gewidmet sein, die nächs­ten CDs sind schon in der Pipeline. Siehst Du die Gefahr der Inflationierung?

Für die Labelgründung wichtig war ein Gespräch mit Christian Lillinger, der auch sein Label hat und seine Arbeit richtig gut macht. Der meinte zu mir einfach: Dokumentiere Dein eigenes Werk! Es geht gar nicht darum, viel zu verkaufen, auch wenn das natürlich schön wäre. Sondern es geht darum zu zeigen, was man macht und zwar so offen wie möglich. Ich möchte meine Sachen veröffentlichen, wenn sie brennen. Ich will nicht möglichst viel Musik veröffentlichen, sondern ich will sie so veröffentlichen, wie sie mir passt, wie ich sie selber gehört habe. Bei einem eigenen Label gibt es immer auch einen Weg, mit meinen Hörern in direktem Austausch zu treten, wer Hopalit anschreibt und etwas wissen möchte, landet direkt bei mir.

Du hast, beginnend im März 2020, anderthalb Jahre an »Embra­cing You« gearbeitet. Diese Monate waren für alle, für freischaffende Künstler ganz besonders, eine prekäre, auch bedrohliche Zeit. Wie hast Du sie auf Deinem Album verarbeitet?

Das Album dokumentiert für mich die Corona-Zeit. Es ist kein Corona-Album, aber es verdankt sich ganz bestimmten Umständen: gezwungen zu sein, zu Hause zu blei­ben, nicht mit anderen Musi­ker:in­nen touren und spielen zu können. Aber auch: Mehr Zeit für meine Fa­mi­lie zu haben, was ich sehr genos­sen habe und mich ganz neu inspiriert hat. Durch all das hat sich meine Musik verändert, die LP ist Dokument dieses Prozesses. Die musikalischen Ideen sind von den persönlichen Umständen nicht zu trennen.

Aber man kann doch nicht sagen, dass die vergangene Zeit nur von Kreativität geprägt war.

In dieser Corona-Zeit war man sehr mit sich selbst beschäftigt, gezwungen sich damit auseinanderzusetzen, was man eigentlich will, was man kann. Als Musiker habe ich mich darüber identifiziert, auf Tour zu sein — und das war dann erst mal vorbei. Dann stellt sich schon die Frage, wer bin ich eigentlich? Zum Beispiel Fa­milienvater, das ist doch das Haupt­ding. Ich habe eine andere Sicht auf die Dinge bekommen. Ich wurde leichter, habe mir mehr Sa­chen erlaubt: Probier doch mal das — oder das. Auf der anderen Seite wurde ich aber auch fragiler, es fehlte mir ja wirklich was, ich konnte nicht auftreten: Der beste Test dafür, dass du was verinnerlicht hast, ist, wenn es im Moment aus dir rauskommt, wenn du vor Leuten spielst, und dann ist das, was du sagen oder spielen wolltest, auf einmal da. Diese Möglichkeit hatte ich nicht mehr. Ich musste lernen, die Musik so zu spielen, dass sie für sich steht — nur in Auseinandersetzung mit mir selbst.

Hattest Du im letzten Jahr Ängste, dass es vorbei sein kann? Dass Deine berufliche Existenz auf dem Spiel steht?

Ich bin durchaus Optimist gewesen, bin ich eigentlich immer noch. Durch die Corona-Krise bin ich mehr Realist geworden. Meine Grundeinstellung bleibt: Wenn ich mich um die Dinge, die in meinem Einflussbereich liegen, gut küm­me­re, dann wird es schon okay sein. Ich weiß, dass ich eine privilegierte Ausgangslage habe, weil ich noch einen Hochschuljob mache. Corona hat mir aber auch bewusst gemacht, auf wie viel ich verzichten kann. Wenn ich getourt bin, habe ich mich ja auch immer auswärts verpflegt, das fiel dann komplett weg.

Was »Embracing You« von vielen Jazz-­Einspielungen, vor allem Solo-Aufnahmen, unterscheidet sind die Overdubs, die Du sehr prägnant einsetzt. Du greifst dafür auf ein anderes Instrument zurück, auf das Mellotron. Dadurch änderst Du das Klangbild grundlegend und weichst sehr prägnant von einem Jazz-Standard ab.

Live im Studio zu spielen, liebe ich. Du spielst ein Stück und wählst es — als Dokument des gespielten Prozesses — für das Album aus. Vielleicht nimmt man noch ei­­nen Take auf, es ist dann immer noch live. Das Gespielte ist gespielt — cool. Ich fand es aber immer schon interessant und habe mir das auch im­mer mehr zugetraut, das Studio als ein weiteres Instrument zu nutzen: Ich kann noch weiter gehen, ich kann noch mehr Ebenen schaffen, noch mehr Ideen ausprobieren. Es existiert kein Ehrencodex, der mir verbietet, im Studio weiterzuarbeiten. Ich habe solche Zwänge nicht. Wenn ich meine Mu­sik höre, frage ich mich, welche Dimensionen noch in ihr stecken und ob es nicht eine Option ist, mit weiteren Spuren zu arbeiten. Der Prozess muss spontan und lebendig sein. Ich probiere mal diesen Sound aus, wozu passt er dann am besten? Diese Overdubs sind genauso aus dem Moment geboren wie die Stücke, ich habe da keinen Pop-Ansatz verfolgt. Auch die Arbeit im Studio war offen und improvisiert. Ich habe reagiert auf das, was da ist. Das macht für mich Improvisation aus.

Der Aufnahmeprozess war sehr aufwändig — er hat sich über Monate hingezogen, Du warst in einigen Studios. Gab es Widerstände, gegen die Du anspielen, »anproduzieren« musstest?

Auf jeden Fall. In der Rückschau ergibt alles Sinn, die Abfolge der Sessions, der Arbeitsprozess, die Klangschichtungen. Aber als ich im März 2020 beim Deutschlandfunk ins Studio gegangen bin, war das alles nicht absehbar. Ich war konfrontiert mit meinen eigenen Zweifeln: Die Musiker, mit denen ich spielte wollte, waren nicht da, also spielte ich halt solo. Aber Moment, das mache ich doch eigentlich ungern, am liebsten bin ich mit anderen im Austausch, ich reise auch nicht gerne allein … Ich möchte nicht der sein, von dem alles kommen muss. Dadurch entstand eine Art Druck. Den habe ich im Studio gespürt. Die Zweifel waren da: Wenn ich jetzt mit Overdubs arbeite, mache ich das nur, weil ich nicht geliefert habe? Muss ich da was kompensieren? Andererseits: Wie Musik gemacht ist, ist mir letztendlich egal, wenn sie mich über­zeugt — mich erreicht. Alles andere ist sekundär. Es hilft mir nicht dabei, etwas besser oder schlechter zu finden. Als ich mir das bewusst gemacht habe, war das wie ein Freifahrtschein, mit den Studiomöglich­keiten zu experimentieren. Solange mich die Töne überzeugt haben, solange bin ich auf der richtigen Fährte. Warum muss mein kreativer Prozess mit der zuletzt gespielten Note aufhören?

Auf dem Album finden sich drei Coverversionen — von Thelonious Monk, Wayne Shorter und John Taylor. Ich hatte den Eindruck, diese Stücke sind für Dich ein Erinnerungs­speicher, durch den ihre Themen geisterhaft hindurchwehen. Wie kommt die Erinnerung in die Töne?

Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Material. »Ruby My Dear« habe ich in sehr vielen Versionen von Monk studiert. Ich habe versucht, seine Sprache zu ver­stehen und sie mir anzueignen — und irgendwann bin ich an den Punkt gekommen, wo ich mich davon distanziert habe. Wobei, das ist das falsche Wort … es war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mir meine eigenen Gedanken zu dem Stück gemacht habe. Das ist so ein Familiending: Am Anfang ahmen wir unsere Eltern nach, fast blind. Dann fragen wir uns, was machen wir da eigentlich?, und werden selbstständig. Wayne Shorter, John Taylor und Monk sind Vorbilder, bei allen habe ich, auf verschiedenen Ebenen, diesen Prozess der Nachahmung und Aneignung durchlaufen und auch den der Emanzipation. Ich kann gar nicht wie Monk oder Taylor klingen, selbst wenn ich wollte. Trotzdem sind ihre Ideen Teil meiner musikalischen Sprache geworden.

Tonträger: »Embracing You« ist  auf Hopalit Records erschienen
(Digital/Vinyl): pabloheld.com und pabloheld.bandcamp.com

Pablo Held ist selber als Interviewer unterwegs und ist Host einer hervor­ragenden Podcast-Reihe: pabloheld.com/en/investigates