Plötzlich Gastronomen: Giovanni Navichoc, Gregor Schäfer und Christoph Wehr verbinden Erinnerungskultur mit Kaffee und Kuchen

Erinnern und begegnen

An historischer Stelle gibt es seit kurzem ein genossenschaftliches Café in Bickendorf. Es ist zum neu­en Treffpunkt geworden, der zugleich einen wichtigen Teil der Geschichte des Veedels vermittelt

»Herzhäuschen«: Der Name mutet niedlich an, doch dahinter steckt eine schreckliche Geschichte. Bis zu ihrer Deportation während des Nationalsozialismus wohnte in ebendiesem Haus in Bickendorf über vier Jahrzehnte die jüdische Familie Herz. Im Veedel kannten und kennen alle das kleine Landarbeiterhaus als Herzhäuschen. Ab 1940 wohnte auch Carl Frankenstein hier, nachdem die Nationalsozialis­t*in­nen seinen Schuhgroßhandel und sein Haus enteignet, seine Flucht vereitelt und ihn zwangs­weise in dem Haus einquartiert hatten. Alle sechs Bewoh­ner*innen des Hauses wurden im Oktober 1941 vom Bahnhof Deutz nach Polen und Weißrussland deportiert, um 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet zu werden. Ihre Geschichte steht stellvertretend für mehr als 7.000 weitere Kölner Jüd*innen während des NS-Regimes. Nach dem Krieg geriet die Vergangenheit dieses geschichtsträchtigen Orts in Vergessenheit. Das seit den späten 60er Jahren unbewohnte Haus, das prominent an dem nach ihm benannten »Häuschensweg« steht, verfiel über die Jahre immer weiter.

Seit 2003 erinnern zumindest sogenannte Stolper­steine an die sechs von den Nazis ermordeten Bewohner-*innen. Gerade der geplante Abriss des Gebäudes sollte dem Ort schließlich neues Leben einhauchen. 2013 kaufte das städtische Wohnungsunternehmen GAG das ehemalige Groten-Gelände, auf dem unter anderem auch eine Metallwarenfabrik beheimatet war, und erstellte einen Bebauungsplan für eine Siedlung mit mehreren Hundert Wohnungen. Das Herzhäuschen sollte weichen. Die Menschen in Bickendorf bekamen jedoch die Gelegenheit, sich zu den Plänen zu äußern und Vorschläge zu machen. Die Nachbarschaftsinitiative »Künstler für Bickendorf« nutzte die Chance und stellte ein eigenes Konzept für das Haus und die Umgebung vor. Die Idee: Das Haus bleibt dort, wo es ist, und wird saniert, die Straßenkreuzung wird zu einem großen Platz als gemeinsamer Raum für Auto-, Rad- und Fußverkehr. Sogar ein riesiger Thron als Sitzge­legenheit wurde von der Initiative geschaffen und zu einem Teil des Konzeptes gemacht.

»Auf einmal hieß es: Du bist doch der, der das Café macht«
Gregor Schaefer

Nicht alles davon konnte verwirklicht werden. Die Kreuzung ist immer noch eine Kreuzung, weil ein Teil des Geländes städtisch ist und die Stadt sich gegen Einrichtung eines Platzes gewehrt hatte. Das Herzhäuschen wurde nicht saniert, sondern wegen seiner schlechten Bausubstanz abgerissen und originalgetreu wieder aufgebaut. Dennoch ein großer Erfolg für die Initiative, die sich mit dem Vorschlag durchsetzte, das Haus als öffentlichen Ort zu betreiben und die von ihm abgehende Straße nach der ehemaligen Bewohnerin Mathilde Herz zu benennen. Nun ist das Herzhäuschen Teil des »Bickendorfer Kulturpfades«, der historische Orte des Veedels miteinander verbindet, sie lebendig hält und so über die Geschichte, Kultur und gestaltende Persönlichkeiten des ehemaligen Dorfs und späteren Arbeiter*innenviertels informiert.

Doch wie einem Ort gerecht werden, der Erinnerungsstätte und Begegnungsort gleichzeitig sein soll? Die »Künstler für Bickendorf« überzeugten die GAG, im Haus ein Café zu eröffnen. Mitbetreiber Gregor Schaefer empfängt uns vor dem Herzhäuschen und erinnert sich an die Anfänge des Projekts. »Ich stehe den ›Künstlern für Bickendorf‹ nahe, eigentlich sind sie sogar meine Nachbarn«, sagt Schaefer. »Als die Idee aufkam, einen Kulturraum im Herzhäuschen zu schaffen, habe ich ein Konzept dafür geschrieben. Auf einmal hieß es: Du bist doch der, der das Café macht.« Hauptberuflich wollte Schaefer jedoch keine Gastronomie betreiben, konnte sich einen genossenschaftlichen Betrieb hingegen vorstellen. So bildete sich aus dem Umkreis der Initiative eine Gruppe aus drei Frauen und drei Männern, die das Haus seit anderthalb Jahren zum Café herrichtet und seit August betreibt.

Der Bereich vor dem Haus wurde zur Terrasse; ein kleiner Zaun, bunte Töpfe mit Blumen, Kräuter und zwei Apfel­bäume, die sie zur Eröffnung von der Nachbarschaft geschenkt bekamen, trennen sie von der Straße. Neben dem Eingang des Cafés sind die sechs Stolpersteine aus Messing zur Erinnerung an Mathilde, Albert, Karl Sally, Marga und Harry Herz sowie Karl Frankenstein eingelassen.

Die Mitbetreiber Giovanni Navichoc und Christoph Wehr führen durch die Innenräume des Cafés. An der Wand steht in einer dünnen Linie das deutsche Grundgesetz geschrieben, es hängen Bilder wechselnder Künstler*in­nen. Tische und Stühle sind aus Holz gefertigt. Die gesamte Gastronomie folge dem Upcycling-Gedanken, erzählt Navichoc. »Die Bretter für die Tische und Stühle haben wir uns aus zweiter Hand geholt. Wir sechs haben dann alle zusammen die Inneneinrichtung aufgearbeitet, eigentlich sind nur die Kaffeemaschine und der Kühlschrank neu«, so Navichoc. »Auch das Geschirr ist gebraucht. Deswegen bieten wir auch nichts zum Mitnehmen an, die Gäste sollen unser Angebot hier vor Ort genießen.« Dazu gehören Kuchen, Salate und Frühstück. Eine Gastronomie hat vorher noch nie jemand von ihnen geführt, obgleich einige gastronomische Erfahrung mitbringen. »Wir machen das alle nebenberuflich«, so Christoph Wehr. »Ich bin eigentlich Theatermacher, wir haben Pädagoginnen, Elektriker, Bürokräfte. Dadurch können wir viel selbst machen und ergänzen uns.« Entscheidungen zu treffen, sei bei sechs gleichberechtigten Mitgliedern bisweilen schwierig, sagt Wehr, aber auch fruchtbar, weil das Konzept eine gesunde Streitkultur und Kompromissbereitschaft fördere.

Ebenso wichtig wie das Upcycling- und Genossenschaftsprinzip ist den sechs Betreiber*innen, dass sie ihre Gastronomie um ein Kulturprogramm ergänzen. Sie nehmen die Geschichte des Hauses zum Anlass, den Veranstal­tungschwerpunkt auf Demokratieförderung und Diktaturaufarbeitung zu legen. Lesungen und Konzerte wird es geben, in der Adventszeit soll ein erstes Programm aufgelegt werden. Später soll eine wöchentliche Veranstaltung mit Kleinkunst und Musik aus Bickendorf und der Umgebung etabliert werden. Das Programm wird in der Speisekarte, auf einer Staffelei vor dem Café sowie über Mundpropaganda und einen kleinen Verteiler verbreitet. »Wir sind nicht das Hipster-Café«, erzählt Gregor Schaefer. »Hier treffen sich unterschied­liche Zielgruppen, von Rentnern über die junge Familie bis hin zu Kindern, die sich nach der Schule ein Stück Kuchen leisten.« Viele kennen das Haus noch von früher, erzählen Geschichten, die sie mit dem Herzhäuschen verbinden — von vor, während und nach dem NS-Regime: »Gegenüber ist während des Krieges mal ein Flugzeug abgestürzt«, erzählt Schaefer. Daran würden sich viele Ältere noch erinnern. Der Ort sorgt dafür, dass Erinnerungen weitergegeben werden.

Auch die Umgebung des Herzhäuschens verändert sich. Neben dem Café entsteht in einem der neuen GAG-Wohnhäuser eine Kindertagesstätte. Christoph Wehr führt in die obere Etage des Hauses. Eine Lese-Ecke ist eingerichtet, mit Sesseln und einem Bücherregal. »Wir wollen hier dann Freitagnachmittag Märchenlesungen anbieten«, sagt er. So sollen die Eltern des Veedels entlastet werden — und auch die Kinder und Jugendlichen an die wichtige Geschichte des Hauses herangeführt werden.