Wohnzimmer mit Kalksteinmöbeln

Der Wiener Platz ist einer der am stärksten frequentierten Plätze der Stadt. Das Dauerprovisorium wird anders genutzt als vorgesehen und ist trotzdem die Heimat vieler Communitys

»Wenn ich auf den Wiener Platz sehe, dann sehe ich Stei­ne«, sagt Norbert Fuchs. Der Mülheimer Bezirksbürgermeister schaut oft auf den Platz, der direkt vor dem Bezirksrathaus liegt. »Ich bin in Mülheim aufgewachsen. Der Platz war nie schön, und er war nie grün«, sagt er. »Der Wiener Platz ist ein ganz normaler Platz«, meint da­gegen Eva Rusch. Die Designerin wohnt in Mülheim, arbeitet für Verbände und die Stadtverwaltung und hat zuletzt Plakate für die Covid-19-Impfkampagne in Mülheim gestaltet. »Der Platz hat die gewöhnlichen Pro­bleme eines Großstadtplatzes«, sagt Rusch.

Mülheim ist der bevölkerungsreichste Kölner Bezirk, der Wiener Platz ist sein Zentrum und Eintrittsbereich. Rund 70.000 Menschen nutzen ihn täglich, allein wegen des öffentlichen Nahverkehrs. Andere drängeln sich mit dem Fahrrad an der Wiener-Platz-Galerie oder dem Be­zirks­rathaus vorbei. Und dann gibt es noch jene, die den Platz bewusst ansteuern. Sie besuchen den Wochen­markt, eine Kundgebung oder die Sparkasse. Sie treffen sich nach der Schule auf den Treppen oder sitzen abends im Zelt oder Biergarten auf der Platzmitte. Für diese Menschen ist der Wiener Platz eine Art Wohnzimmer.

»Am Wiener Platz treffen sich viele verschiedene ­Communitys«, sagt die Kommunikationsdesignerin Sonja Lang­ner, die in der Nähe wohnt. Für den Verein Agora Köln und die Stadt Köln hat Langner in den vergangenen Monaten viel Zeit damit verbracht, den Platz und seine Nut­zer*in­­nen zu untersuchen: »Viele sind mit dem Wiener Platz unglücklich, andere, wie die afrikastämmige Community, finden den Platz super«, sagt sie.

Einer, der eher unglücklich mit dem Wiener Platz ist, ist sein Schöpfer: der Architekt Stefan Schmitz. »Der Platz ist zu weitläufig«, findet er. Mitte der 90er Jahre wurde Schmitz mit der Neugestaltung beauftragt. Bis dahin war hier ein Parkplatz, der vom Autoverkehr umspült wurde. Mit dem Bau der U-Bahn wurde der Straßenverkehr umgeleitet. Zu den Anforderungen, die Schmitz und sein Team berücksich­tigen mussten, gehörte, den Platz und die U-Bahn-Statio­nen von allen Seiten gut zugänglich zu machen. Außerdem sollte Aufenthaltsqualität hergestellt werden. Schmitz entschloss sich, »den Platz einzufassen«. Im Norden und Süden ließ er Treppen bauen, die mit der Kreissparkasse und der kurz danach entstandenen Wiener-Platz-­Galerie — einem Bürogebäude samt Parkhaus — den Platz im Norden und Süden begrenzen. Und im Westen? »Man blickt ins Nichts«, sagt Stefan Schmitz. Das Nichts ist die Mülheimer Brücke, die auf den Wiener Platz zuläuft. Ursprüng­lich wollte Schmitz den Blick durch eine Art Stadttor auf die Brücke lenken, es hätte zudem als Lärmschutz gegen den stark befahrenen Clevischen Ring gedient.  Zuerst fand sich dafür kein Investor, dann stellte sich die Stadt quer.  

Anstelle eines Stadttors steht an der Westseite heute eine rote Plastikskulptur aus vier Ziffern: 2020. Sie erinnert an das Förderprogramm »Mülheim 2020« aus den frühen Nullerjahren. Seine Resultate sind durchwachsen. Mit Mitteln aus dem Programm wurde die Bushaltestelle an der Frankfurter Straße, die man vorher schlicht vergessen hatte, ausgebaut. Außerdem wurden neue Bänke unter Bäumen aufgestellt, die nun regelmäßig voller Vogeldreck sind. »Mülheim 2020« sah den Bau eines Gastronomie-Pavillons aus Stahl und Glas in der Platzmitte vor, entworfen von Schmitz. Auch dafür fand sich bis heute kein Investor. »Das ärgert mich«, sagt Schmitz. Ein provisorisches Bauwerk wie dieses dürfe nicht so lange bleiben.   

Eva Rusch kann sich eine kulturelle Nutzung des Platzes vorstellen, sagt aber auch: »Im Biergarten trifft sich halt eher das kleinbürgerliche Mülheim. Das ist auch okay.« ­Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs hat während der Corona-Pandemie eine Fraktionssitzung der SPD dort abgehalten. Er nimmt den Biergarten in Schutz, auch, weil es dort eine Toilette gibt. Für die war bei der Planung des Platzes zwar ein Raum vorgesehen, der aber nie ausgebaut wurde. Auf die Toilette angewiesen sind vor allem die Menschen, die sich den ganzen Tag auf dem Platz aufhalten — weil sie keine Wohnung haben oder weil sie dort die Mittel bekommen, um ihre Suchtkrankheit zu befrie­digen. Um diese Gruppe kümmert sich Linda Rennings, Sozialarbeiterin beim Verein Heimatlos in Köln. »Für diese Menschen ist der Besuch auf dem Wiener Platz wie ein Fami­lientreffen«, sagt Rennings. Zu 50 bis 80 Menschen habe sie dort regelmäßig Kontakt. Rennings versorgt sie mit Essensgutscheinen und Schutzmasken oder begleitet sie zur Apotheke. Dafür könne sie ein Büro am Platz gut gebrauchen, sagt sie. Stattdessen unterhält sie sich mit ihrer Klientel auf den Treppen. »Corona hat die Lage drastisch verschärft«, meint Rennings. Dazu käme, dass die Ordnungsbehörden nicht sehr kulant gegenüber ihren Klient*innen seien. Bezirksbürgermeister Fuchs spricht offen über Menschen, die er lieber nicht am Wiener Platz sehen möchte. »Probleme mit Alkohol und Drogen sind hier geringer als am Neumarkt oder Hauptbahnhof«, wirft Rennings ein. In naher Zukunft soll jedoch auch in Mülheim eine Überlebensstation für Obdachlose entstehen.

Seit im März 2019 ein Mensch bei einer Messer­attacke starb, rückte der Wiener Platz stärker in den Blick der Öffent­lichkeit. Die Polizei überwacht ihn mit Kameras, auch die 200 Mitglieder starke »Initiative für ein lebenswertes Mülheim« legte im Herbst 2019 Vorschläge vor, wie der Platz verändert werden könne: etwa durch häufigere Reinigung, mehr Grün oder einer bewachten Fahrradgarage. »Aber Politik und Verwaltung haben unsere Vorschläge zerpflückt«, sagt Karin Lorra-Giese von der Initiative. Ein paar Monate später stieß der Stadtentwicklungsausschuss dann eine breite Bürgerbeteiligung an, um den Platz zu verändern.

»Uns schwebt ein Platz-Rat aus allen Akteur*innen vor«,  sagt Sonja Langner vom Verein Agora Köln, die im Auftrag der Stadt die Grundlagen für das Beteiligungsverfahren ermittelt. Im Platz-Rat sollen Vertreter*in­nen von Institutio­nen wie KVB, Polizei, AWB oder der Verwaltung mit Vertre­ter*innen der Nutzergruppen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. »Oftmals wissen die einen gar nicht, wie die anderen den Platz wahrnehmen und welche Proble­me es für sie gibt«, sagt Langner. In einem Workshop haben im August vergangenen Jahres 40 Beteiligte die verschiedenen Nutzungen des Platzes zwischen Gastronomie, Umsteigeort und Kultur benannt, bevor die zweite und dritte Welle der Corona-Pandemie die Weiterführung erschwerte. Die Stadt­­verwaltung hat eine ethnografische Befragung der Nut­zer*in­­nen durchführen lassen, außerdem gibt es jetzt eine 3D-Virtualisierung des Wiener Platzes. »Damit können etwa bauliche Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Verkehrsströme simuliert werden«, sagt Sonja Langner. Als nächstes muss die Stadt das Beteiligungsverfahren ausschreiben. Bis zum Start dürften Monate vergehen.

Ein Entrée für Mülheim solle der Wiener Platz werden, eine »gute Stube«. Vielleicht gelingt das am besten, indem man sich an seine eklektische Einrichtung gewöhnt.