Auf die Straße! — Fünf Jahrzehnte politische Plakate in Köln

Vor 50 Jahren haben Jochen und Martin Stankowski zusammen mit dem VolksBlatt-Kollektiv in Köln die ­politische Agitation revolutioniert: Sie schufen eine einzig­artige Plakatkunst, mit der sie direkt in den städtischen Raum intervenieren konnten. Auf die Straße — das war der Schlachtruf dieses neuen Journalismus. Ob Haus­besetzungen, Jugendarbeit, Feminismus, Korruption in Köln: Gestalterisch wie inhaltlich waren sie auf der Höhe der Zeit. Mit der Ausstellung »AnSchläge. 5 Jahrzehnte politische Plakate in Köln« in den Kunsträumen der ­Horbach-Stiftung wird dieser Aktivismus umfassend gewürdigt. Anlass für uns zu fragen: Was hat der Aktivismus gebracht? Was lässt sich von ihm für unsere Gegenwart lernen? Felix Klopotek hat sich mit Martin Stankowski unterhalten, Philippa Schindler hat ihre WG zum Anlass genommen, sich auf Spurensuche zu begeben.

Die neuen ­Subjekte

Die Plakatkunst der Stankowski-­Brüder reflektiert den Aufbruch der 1970er Jahre. Dass sie heute noch wichtig ist, hat mit drei grund­legenden Ideen zu tun

Ein klares, einfaches Gestaltungsprinzip: »Die Schlagzeile muss für einen Vorübergehenden und einen Fahrradfahrer erkennbar sein«, sagt Martin Stankowski. Er und sein Bruder Jochen klebten, immer im kollektiven Prozess mit anderen, von 1982 bis 1985 eine Wandzeitung in Köln — links und interventionistisch, schnell geschrieben, schnell geklebt, um auf Aktionen aufmerksam zu machen, Missstände anzuprangern, das selbstgefällige Kölner Bürgertum herauszufordern, die lähmende Sprachlosigkeit im öffentlichen Raum aufzubrechen. Eine Provokation. Wer von den Spießern etwas weltläufiger war, dachte vielleicht an China, wo das Medium der Wandzeitung ein Kampfmittel in der Kulturrevolution war. Maoismus in Köln?

Wenn man sich die Arbeiten von Jochen und Martin Stankowski anschaut, liegt nichts ferner als das. Sie bringen zum Ausdruck, wer in Köln in den 70er und 80er Jahren unterwegs war, wofür hier gekämpft wurde, welche neuen politischen Subjekte sich artikulierten — Leute, an die die herrschende Stadtpolitik zuvor nie gedacht hatte (und es auch nie vorhatte): obdachlose Jugendliche und ehemalige Heimkinder, junge Links­katholiken (!), Feministinnen, Migranten, die in ihrer Not Häuser besetzen, Fahrradfahrer, die ihr Recht auf Straße einfordern, Umweltbewegte und entsetzte Bürgerinnen, die gegen die Zerstörung des städtischen Raums durch menschenfeindliche Großbauprojekte aufbegehren. »Köln ist immer — weil die Kölner so schlampig sind, so unorganisiert und unzuverlässig — ideal für selbstorganisierte, freischwebende Initiativen. Es gibt keine Stadt in der Bundesrepublik, die im Verhältnis gesehen so viele freie und unabhängige Initia­tiven hatte. In Frankfurt saßen die Theoretiker, Berlin galt als dogmatisch, von München wusste keiner was Genaues. Und in Köln blühten die Initiativen«, blickt Stankowski zurück. Ein bisschen davon merkt man noch heute.

Die Stankowski-Brüder haben schon letztes Jahr ihre subversiv eingreifenden  Arbeiten — Plakate und Wandzeitungen, Dokumentationen von Happenings — in einem schönen Katalog versammelt, »AnSchläge. Plakate aus 5 Jahrzehnten« (­Verlag der Buchhandlung Walther König). Sie haben sich rein­gekniet, Gelder gesammelt, Gespräche geführt und gestalten jetzt mit ihren Arbeiten eine gleichnamige Ausstellung in den Räumen der Horbach-Stiftung. Flankiert wird sie von sechs Themennachmittagen, in denen die Protagonisten der damaligen Bewegungen Bilanz ziehen. Das Museum für Angewandte Kunst wird nach Ende der Ausstellung alle Plakate übernehmen, archivieren und digital zugäng­lich machen. »AnSchläge« ist aber mehr als eine Retrospektive: Denn zu sehen sind modellhaft Plakate und Zeitungen, mit denen in den Stadtraum interveniert wurde. Was hat’s gebracht — und: Könnte man heute, wo sich Öffentlichkeit angeblich in sogenannte »soziale Netzwerke« auflöst, noch so arbeiten?

Dass die Frage nach der Relevanz virulent ist, hat mit drei Arbeitsprinzipien der Stankowski-Brüder zu tun. Martin Stankowski, 1965 Abitur, danach in Köln zum Journalisten ausgebildet und in einem kleinen, renitenten linkskatholischen Milieu unterwegs, erinnert sich: »In der Stadt gab es eine Reihe von alternativen, sozialistischen Strukturen, aber noch nicht den Produktionsgedanken, noch nicht die Selbstverwaltung. Das fing mit uns an.« 1971 gründet er mit Jochen eine Druckerei, daraus wird ein Kollektivbetrieb, der erste in Köln: Merkenicher Straße 99 in Niehl. Später, sagt Stankowski, kamen Schreiner dazu, sogar Zahnärzte. Auch die 1976 gegründete Stadtrevue (die zunächst noch kein Kollektiv­betrieb war). Arbeiten im Kollektiv: das heißt arbeiten ohne Chef, mit Einheitslohn, Gewinne fließen nicht ab, werden auf alle Mitarbeiter verteilt oder gespendet. Das ist das erste Prinzip: Selbstorganisation.


Köln ist immer, weil die Kölner so schlampig sind, so unorganisiert und unzuverlässig, ideal für selbst­organisierte, ­freischwebende ­Initiativen

Daraus erwächst das zweite: Gegenöffentlichkeit. Das Kölner VolksBlatt wird gegründet, zunächst als Wandzeitung, dann im Herbst 1973 gedruckt und verteilt. »Unser politisches Projekt war das VolksBlatt, ganz klar«, sagt Stankowski. In ihrer besten Zeit erschien die Zeitung 14tägig und konnte 9000 Exemplare je Ausgabe verkaufen. Anders als die Stadtrevue war das VolksBlatt kein Magazin, sondern die Plattform der Bürgerinitiativen und linken Stadtgruppen. »Als Medium für alle offen zu sein — das war unser Anspruch. Wir wollten die Spaltungspolitik der linken Parteien nicht mitmachen. Und zugleich haben wir in vielen Sachen unmittelbar agiert und selber Stellung bezogen. Wir haben mit den Initiativen über ihre Flugblätter diskutiert und ihnen geholfen, sie lesbar zu machen.« Die Kerngruppe bestand aus zwölf Leuten, sechs wurden bezahlt. Einige Namen kennt man, Gernot Huber, der wichtigste Kölner Fotograf jener Jahre, oder Wolfgang Fromm­let, Thomas Weidenbach und Lothar Gorris — später bekannte Journalisten. Auch Stankowski wurde dann als Radio- und Fernsehautor prominent. Jeden Mittwoch fand in der Palmstraße die offene Redaktionssitzung statt. Und offen heißt — jeder ist eingeladen. Stankowski muss jetzt noch tief Luft holen: »Zehn Jahre haben wir das gemacht! Die Jahren waren Knochenarbeit.«

Zumal die Plakatarbeit weiterlief: Jochen Stankowski hat zwischen 1973 und 1993 500 Plakate allein für die SSK, die Sozialistische Selbsthilfe Köln, in der sich Jugendliche und Heimkinder organisierten, um den fürchterlichen ­Wegschließ- und Verwahrorten zu entkommen, entworfen und gedruckt. Damit ist dritte Arbeitsprinzip genannt: die Gestaltung.

Die Stankowskis haben einen berühmten Onkel: Anton Stankowski, er ist einer der großen Konstruktivisten in Grafik und Malerei des 20. Jahrhunderts. Jochen, der Schriftsetzer gelernt hatte, ging anschließend bei seinem Onkel in die Lehre, um Grafiker zu werden. »Die Akzidenz-Grotesk war die Lieblingsschrift von Anton Stankowski. Logisch, dass wir mit ihr das VolksBlatt gesetzt haben.« Jeder kennt Anton, weil der das Logo der Deutschen Bank entworfen hat — und viele ­kennen Jochen, der bis heute die Einbände der Merve-Bücher gestaltet und damit die, neben der Edition Suhrkamp, stil­bildendste Buchreihe der Republik visuell geprägt hat. Kon­struktivismus heißt: Reduktion der gestalterischen Prinzipien auf klare, nachvollziehbare, rationale Prinzipien; Abstraktion der Darstellung auf wenige, symbolhaft starke Elemente, die den Inhalt einer Aussage unverstellt von Schnörkeln in den Vordergrund treten lassen. Die Anwendung konstruktivistischer Prinzipien ermöglicht schnelles Arbeiten und die Gleichwertigkeit von Gestaltung und Inhalt. Die Ästhetik eines Plakats ist nicht von seiner Aussage zu trennen.

Selbstorganisation und arbeiten im Kollektiv, Gegen­öffent­lichkeit ohne Hierarchien, schließlich die Stärke einer eigenen Ästhetik, die trotz (oder gerade wegen!) ihrer minimalistisch-strengen Prinzipien der Fantasie viel Raum lässt: Das unterscheidet diese Arbeitsweise von Twitter und Facebook, von Clicktivism und Shitstorms. »Ganz einfach«, sagt Stankowski, »wir wollten keine Stimmungsmache, wir ­wollten informieren.« Als ein junger Bekannter sich kürzlich glücklich darüber geäußert hat, dass es in der Innenstadt endlich (einige wenige) breite Fahrradwege gibt, hat ihm Stankowski eine VolksBlatt-Ausgabe von 1976 gezeigt: Die erste Kölner Fahrradinitiative veröffentlichte damals die ­gleichen Pläne. »Park nicht auf unseren Fahrradwegen, wir pinkeln auch nicht in deinen Aschenbecher«, lautete ein Kampagnen-Motto.

Manches ändert sich nie oder nur sehr spät, auch daran erinnern die Plakate: Wohnraum wird weiter zerstört oder menschenunwürdig gestaltet, die Stadt wird zunehmend unbezahlbar. Der große Unterschied: Die Interventionen damals stießen auf Gegner, die den Aktivisten den Gefallen taten, sich borniert und halsstarrig aufzuführen. Ständig wurde das VolksBlatt mit Beleidigungsklagen überzogen, Stankowski wurde — widerrechtlich — von Pressekonferenzen ausgeschlossen, Plakatekleben galt als Sachbeschädigung. »Da ging es immer um den schändlichen Plakat-Kleister. Die beste Geschichte, die wir erlebt haben: Da haben wir Plakate geklebt an ein städtisches Haus, dafür haben wir eine Anzeige bekommen und es kam auch zur Verhandlung. Nur — das Haus war zwischenzeitlich abgerissen! Der Richter war ziemlich sauer und fühlte sich von der Stadt verarscht.« Köln halt.

So plump agieren Staat, Bürokratie und Stadt heute nicht mehr. Und noch aus einem anderen Grund ist der Aktivismus nicht so einfach zu wiederholen: Er hat ja die Stadt bereits verändert! Was damals militant war und angefeindet wurde, ist heute Folklore — auch das ist nun mal Köln. Hier lohnt es sich tatsächlich, einmal Mao zu zitieren: »Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht.« Der Feind ist heute biegsam.

Die Frage, was ihr Aktivismus damals bewirkt hat, will Stankowski eigentlich gar nicht beantworten, das sollen andere entscheiden. Aber dann sagt er: »Ich glaube, die Behauptung ›Jeder Jeck is anders‹ haben wir sehr stark ins Politische gewendet. Wir wollten dafür kämpfen, dass der Kölner Anspruch, eine freiheitliche Stadt zu sein, nicht karnevalistisch bleibt.« Material für diesen Kampf, vielmehr: für diese Kämpfe liefert die Ausstellung »AnSchläge« mehr als genug. Den Weg aber, es für unsere Gegenwart fruchtbar zu machen, müssen wir selber finden.

Text: Felix Klopotek

 

 

Erbe verpflichtet

Die soziale Bewegung in Köln war vor vierzig Jahren untrennbar mit Mieterbewegung und ­Häuserkampf verbunden. Was bleibt von dem Erbe? Philippa Schindler hat das Haus, in dem sie wohnt, zum Anlass genommen nachzufragen

Das Bücherregal, bis unter die Decke vollgestellt mit marxistischer Literatur, die Lücke im Bad, wo früher zwei Wannen direkt nebeneinander standen, Bilder und alte Zeitungs­artikel an den Wänden: In unserer Wohngemeinschaft in der Palmstraße erzählen all diese Dinge von Menschen, die hier gelebt haben — seit dem 1. Mai 1975. Den Tag des Einzugs kennen wir genau, denn neben dem Aufgang zu unserer Treppe hängt noch immer eine auf der Schreibmaschine getippte Liste, die Monat für Monat und Jahr für Jahr die Namen all derer auflistet, die seitdem hier gewohnt haben. Samt einer kurzen Beschreibung. Da ist zum Beispiel Wolfgang, eine »verkrachte Existenz, damals Alkoholiker, nie wiedergesehen« oder Nikolaus, »Erikas Patient und Lebensgefährte«.


Die Errungen­schaften früherer Proteste prägen das Stadtbild bis heute

Vor einiger Zeit haben wir uns auf die Suche nach diesen Menschen gemacht. Wir haben im Internet und in Archiven nach ihren Namen gesucht, haben mit einigen von ihnen gesprochen und andere auf alten Filmaufnahmen gesehen: eine Künstlerin, die sich bei einem Happening die Haare im Hof scheren ließ, die Häuser in unserem Viertel alle noch rau und unsaniert. Eine andere, einige Jahre später, bei einem Theaterabend mit Handpuppen in unserem Wohnzimmer. Aus der Nachbarschaft sind ältere Damen mit Fönfrisuren gekommen und sitzen auf wackeligen Stühlen. Wir haben mit der Suche nach diesen Menschen begonnen, weil wir wissen wollten, was es mit dem Gerücht auf sich hat, dass unser Haus damals in den 1970er und 1980er Jahren ein wichtiger Ort für die linke Szene in Köln gewesen sei. Welche Geschichte hat unser Haus? Was bedeutet das für uns, die wir heute darin leben? Auch unser Haus ist aktuell bedroht. Wie lange wir hier noch wohnen können, ist unklar.

In der alten Bundesrepublik war Köln, neben West-Berlin, Hotspot der Hausbesetzer*innen-Szene. 1977 wurde das älteste, bis heute autonom bewohnte Gebäude in der Marien­straße besetzt, drei Jahre später dann der Karthäuserwall 18, in dem mittlerweile eine Fahrradwerkstatt, ein selbstverwaltetes feministisches Zentrum und das Kunsthaus KAT18 untergebracht sind — mehreren Räumungsversuchen zum Trotz. Ebenfalls 1980: die Besetzung der alten Stollwerckfabrik in der Südstadt mit bis zu 600 ­Menschen. Heute befindet sich in dem Teil, der nicht dem Abriss zum Opfer gefallen ist, ein Bürgerzentrum. Die Liste der Hausbesetzungen, die damals und in den darauf folgenden Jahren in Köln stattfanden, könnte so noch lange weiter geführt werden, die Errungenschaften früherer Proteste prägen das Stadtbild bis heute. Aber was ist daraus geworden? Heute steigen in Köln die Mieten ins Unbezahlbare, werden Familien und Menschen mit geringem Einkommen an den Rand gedrängt, andere finden gar keine Bleibe mehr.

Besuch bei Rainer Kippe in Mülheim. In dem kopf­stein­gepflasterten Hof in der Düsseldorfer Straße 74 sitzt er an einem Gartentisch, vor ihm eine Tasse Tee, über uns ein großer Sonnenschirm, der vermutlich nicht nur der Sonne, sondern auch dem Regen bei jeder Jahreszeit trotzt. Einige Meter entfernt rangiert ein weißer Transporter, gerade kam eine neue Lieferung Second-Hand-Möbel an. »Klar, dass man gerade da jetzt die Wäsche hinstellen muss«, kommentiert Rainer Kippe schmunzelnd das Spektakel. Er ist seit der ersten Stunde dabei, das war 1979. Damals besetzten er und einige Mitstreiter*innen das Gelände der alten Schnapsfabrik und bauten die Mülheimer Gruppe der Sozialistischen Selbsthilfe Köln auf. 1985 kam es zum Zerwürfnis mit dem SSK, seitdem heißen sie Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM).

Rund 20 Menschen jeden Alters und aus allen gesellschaftlichen Schichten leben und arbeiten hier gemeinsam: Arbeitslose, Obdachlose, Behinderte, psychisch Kranke, ehemals Drogenabhängige. Der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer schrieb über das Modell des SSM vielleicht idealisierend, »dass in dieser Gemeinschaft das kommunistische Ideal verwirklicht ist, in dem jeder und jede Einzelne entsprechend der eigenen physischen und intellektuellen Möglichkeiten lebt und arbeitet und dieser Beitrag in der Gruppe gleich bewertet wird«. Rainer Kippe sagt es einfach so: »Menschen, die in einer Zwangslage sind, erkämpfen für sich eine Veränderung der Verhältnisse.«

Angefangen hatte man hier ohne Wasser, ohne Strom, sogar ohne funktionierende Kanalisation. Seit 1993 hat der SSM eine Mietvertrag mit der Stadt Köln — und besetzt weiter Gebäude, um Wohnraum für obdachlose Menschen in der Stadt zu schaffen. Etwa das große Eckhaus in der Bergisch Gladbacher Straße in Dellbrück im März 2019. »Mein Sohn kam damals mit einer älteren Dame nach Hause, Ursula Brehm, die er in der Straßenbahn kennen­gelernt hatte und die kein Nachtquartier hatte«, erzählt Rainer Kippe. Ein paar Wochen schlief sie auf einer Bank im SSM, einen anderen Platz gab es dort damals gerade nicht. Es kamen immer mehr Menschen, die tagsüber ohne Obdach durch die Straßen liefen, weil sie aus ihren Schlafstellen verschwinden mussten.

Zu unserem Gespräch ist Tom dazu gekommen, ein junger Mann mit dunkelbraunem Dreitagebart und Zopf im Nacken, seit 15 Jahren lebt er im SSM. »Das ging ja erst mal ganz harmlos los«, erinnert er sich. Monatelang haben er und Verbündete sich an Stadt und Verwaltung gewandt und um Wohnraum gebeten, jedes Mal wurden sie hingehalten und vertröstet. »Irgendwann haben wir in der Zeitung von dem leerstehenden Haus in der Bergisch Gladbacher Straße gelesen und entschieden: Jetzt reicht‘s. Da gehen wir rein.« Wegen seines Engagements hat Tom schon häufiger mit Staatsanwaltschaft und Polizei zu tun gehabt, eine Klage gegen ihn wollte er eigent­lich bis zum Bundesverfassungsgericht bringen. »Ich setze mich eben gegen dieses Symptom im System Gesamtscheiße ein«, sagt Tom, »aber manchmal wünsche ich mir, dass es mehr Vernetzung, mehr Ressourcen gibt.«

Bundesweit werden die Mieten in Bestandswohnraum immer höher: Einer Studie der Online-Plattform ImmoScout24 zufolge zogen sie im ersten Jahresquartal 2021 so stark an wie seit fünf Jahren nicht mehr. Rund 7,18 Euro kalt verlangten Vermieter laut den Ergebnissen der Analyse pro Quadratmeter, bei Neuvermietungen waren es sogar 9,58 Euro kalt. Das Deutsche Institut für Urbanistik hält es zudem für möglich, dass geänderte Bedürfnisse infolge der Corona-Krise das Wohnen weiter verteuern könnten: Größere Wohnungen, mehr Rückzugsmöglichkeiten und eine bessere technische Grundausstattung dürften begehrter werden. Doch immer weniger Menschen können sich das leisten: In Großstädten eine bezahlbare Wohnung zu finden, wird für die meisten immer schwerer. Aussicht auf Verbesserung: eher gering. Was also fehlt beim Kampf um Wohnraum?

»Es sind nicht die leerstehenden Häuser, sondern die Perspektiven«, sagt Rainer Kippe. »In den 70er bis 90er Jahren hat die Stadt immer Selbsthilfeprojekte unterstützt, heute stellt sich bei leerstehenden Häusern nur die Frage, ob sie abgerissen werden oder man sie an Investoren verkauft.« So wie im Fall der Initiative raum13. Über zehn Jahre lang hatte sie aus der ehemaligen KHD-Hauptverwaltung im Otto-Langen-Quartier in Mülheim ein »Zentralwerk der schönen Künste« gemacht, mit Veranstaltungen, Festivals, Ateliers. Das Goethe-Institut hatte raum13 auf die Liste der zehn wichtigsten Projekte in Deutschland gesetzt. Ende April 2021 ließ der Eigentümer die Initiative zwangsräumen, einige Wochen später entschied die Stadt von ihrem Vorverkaufsrecht Gebrauch zu machen — doch ob und wie die Initiative an der Weiterentwicklung des Quartiers beteiligt sein wird, bleibt bis jetzt offen.

»Es beginnt sich ein breites, gesellschaftliches Unbehagen zu äußern«, sagt auch Rainer Kippe im Hof des SSM. Der Laster ist mittlerweile zur nächsten Station weitergefahren, Freddy, einer der Bewohner, läutet die Glocke zum Mittagessen. Der geschäftige Trubel, der bislang auf dem Hof herrschte, ebbt langsam ab. »Durch die Wohnungsfrage und die zunehmende Obdachlosigkeit kommt die Sache wieder in Bewegung«, sagt Rainer Kippe, während er ein letztes Mal an seinem Tee nippt, bevor er zum gemeinsamen Essen nach drinnen verschwindet. »Das spitzt sich jetzt ganz massiv zu — und da zeichnen sich Bündnisse ab.«

Einige Wochen zuvor, wieder einmal haben wir die Recherche zu unserem Haus aufgenommen. Wir rufen bei Martin Stankowski an, ob er zu unserem Haus noch etwas von früher erinnere? Das Abwinken am anderen Ende der Leitung ist nicht zu überhören. »Da wohnte die WG«, meint er, »aber alles Aufregende fand nebenan statt.« Im Nachbarhaus, heute noch unsaniert, mit einem einzigen Ofen für das gesamte Haus und kaputten Fensterrahmen, hatte man damals Wände herausgebrochen, um einen großen Versammlungsraum zu schaffen. Das VolksBlatt hatte hier für einige Zeit seinen Redaktionssitz. Unsere Recherche über die Geschichte unseres Hauses ist damit trotzdem noch nicht vorbei: Denn der Raum für die Gemeinschaft, in der wir heute leben, wurde früher einmal erkämpft — und davon zehren wir noch heute.

Text: Philippa Schindler