»Was ist eine Beleidigung, was ist ein Flirt?«

Filmemacherin Ildikó Enyedi über ihr ungewöhnliches Beziehungsdrama »Die Geschichte meiner Frau«

Warum haben Sie den Roman des Autors Milán Füst adaptiert?

Als Teenager war ich sehr beeindruckt von dem Buch. Mehrmals in meinem Leben kam »Die Geschichte meiner Frau« zu mir zurück. Immer als etwas sehr Aktuelles, immer mit anderem Sinn. Ich nahm mir vor, eine dreistündige Werbung zu drehen für den Schriftsteller Milàn Füst und seine Gedanken.

Im Mittelpunkt steht das Vorhaben des niederländischen Schiffskapitäns Jakob Störr, die erste Frau zu heiraten, die durch die Tür kommt. Ist das romantisch? Oder ist es eher ein gefährlicher Gedanke?

Zu Beginn glaubt der Kapitän, dass man zwischenmenschliche Beziehungen genauso behandeln kann, wie Dinge auf seinem Boot. Jakob ist guter Laune, er will spielen, und er ist sehr überrascht, dass er mit Lizzy auf eine weitere Spielerin trifft. Im ersten Drittel des Films, nach ihrer Begegnung, ist es kein romantisches Verhältnis sondern ein Handel nach der Devise: »Lass es uns versuchen!« Neugier verbindet sie, beide sind voneinander beeindruckt. Erst später kommen die Emotionen ins Spiel. Als der Verdacht aufkommt, dass Lizzy Affären haben könnte, entscheidet Jakob, daraus kein Drama zu machen. Lizzy schätzt diese Geste und erkennt darin für sich Jakobs Großzügigkeit. Erst dann wird es romantisch.

Jakob erscheint kompetent und umsichtig auf See und dagegen sehr unsicher an Land. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Er hat ein solides Arsenal an Fähigkeiten und lebt nach festen Regeln. Dann trifft er eine andere Person und die ist kompliziert. Er will verstehen, was mit ihm und zwischen ihnen passiert, aber seine Fähigkeiten und Regeln sind dafür nicht geeignet. Ich habe schon einige Gespräche geführt mit Männern, darunter mein Sohn, die guten Willens sind. Wundervolle, nette Männer. Aber sie sind sich wirklich unsicher, was richtig ist und was nicht und wie sie sich in einer bestimmten Situation einer Frau gegenüber verhalten sollen. Was ist eine Beleidigung, was ist ein Flirt? Ist der Flirt freundlich oder belästigend? Ich wollte das Augenmerk auf diesen Moment des Widerspruchs legen: Jakob ist alles andere als perfekt — und doch ist er auch ein liebenswerter Kerl.

Warum haben Sie Léa Seydoux für die Rolle der Lizzy ausgewählt?

Erst hatte ich Zweifel, ob Lea die Richtige wäre. Sie ist eine bewundernswerte Künstlerin, ein wundervoller Mensch. Sehr aktiv, dynamisch, freimütig. Aber Lizzy sollte eine stille Macht ausstrahlen. Sie ist keine Femme fatale, dafür ein komplexer Charakter, den die Zu­schauer*innen allmählich entdecken sollten. Als ich Lea zum ersten Mal traf, sah ich allerdings eine schöne Stille und Stärke in der Verletzlichkeit, die ich für Lizzy brauchte. Diese verborgenen Farben sollte auch das Publikum sehen. Ich wollte, dass Lea etwas zeigt, was sie bislang versteckt hatte.

Mir gefiel sehr, dass Lizzy ein solch enigmatischer Charakter ist. Ich konnte bis zum Schluss nicht sagen, warum sie tut, was sie tut.

Die Zuschauer*innen folgen zunächst Kapitän Jakob Störr. Er ist, wie so viele von uns, nicht besonders gut darin, Fragen zu stellen oder einen anderen Menschen zu entschlüsseln. Jemand anderes kann nicht in seiner Gänze entdeckt werden. Lizzy mag zwar ein Rätsel sein, aber sie ist ein Rätsel mit einem ausgefüllten Leben. Und darüber will das Publikum ebenso mehr herausfinden wie Jakob.

Wo liegen die größten Unterschiede in der Verfilmung eines eigenen Stoffs und der Adaption eines Romans?

Wenn man ein Drehbuch von Grund auf selbst schreibt, hat man zunächst einige vage Ideen, man versucht sie in eine Geschichte einzubinden, dann versteckt man in der Geschichte all die Energie, die einen ursprünglich zum Projekt angetrieben hat. Jeder Schritt ist sehr persönlich und schwierig. Wenn man aber so einen tollen Roman eines so guten Autors als Vorlage hat, dann ist es, als würde man von einer Holzhütte im Wald in ein Luxushotel ziehen, wo es Zentralheizung und elektrisches Licht gibt. Man fühlt den ganzen Komfort, den man sonst nicht gehabt hätte.

Sie haben die Geschichte im Gegensatz zu Milán Füst in mehrere Kapitel mit Überschriften eingeteilt …

Der Roman ist ein langer, ununterbrochener Monolog des Kapitäns — ohne Kapitelunterteilung. Viele Aspekte wie die Eifersucht, die Liebesgeschichte, das Privatleben werden über viele Seiten hinweg entwickelt. Ich entschied mich nach einigem Zögern für einen anderen Weg. Ich wollte bei den Zuschau­er*innen Fragen aufwerfen, die der Roman behandelt, und für die ich ihn liebe. Der Raum, das Licht, die Fotografie, die Unterschiede zwischen Meer und Land — darüber sollte sich das Publikum Gedanken machen. Die Kapitelnamen dienen insofern als Startpunkte. Für eine Sekunde hat man innerhalb dieses langen Epos eine Pause und man kann sich Rechenschaft darüber ablegen, was man bis dahin erfahren hat oder was das nächste Kapitel bereithalten könnte. Nicht so sehr vom Inhalt, sondern vom Gehalt her.

Ihr Film ist in den 1920er Jahren angesiedelt, vor fast 100 Jahren. Welche Herausforderungen stellen sich, wenn man eine vergangene Zeit wieder aufleben lässt?

Ich wollte korrekt sein, eine Realität erschaffen, aber natürlich, weich und locker, sowohl in den Kostümen als auch in den Drehorten. Hamburg ist solch eine wundervolle, natürliche Verkörperung aller Werte, die Jakob schätzt. Man sieht diese Gebäude in der Speicherstadt und fühlt sich ihm gleich näher. Seinen Gedanken und seinem Lebensstil.

(A feleségem története) D/F/HUN/I 2021, R: Ildikó Enyedi, D: Gijs Naber, Léa Sedoux, Louis Garrel, 169 Min., 4.11.

 

Ildikó Enyedi

Die Filmregisseurin und Drehbuchautorin wurde 1955 in Budapest geboren. Mit ihrem Spielfilm-Debüt »Mein 20. Jahr­hundert« gewann sie 1989 in Cannes den Preis für den besten Nachwuchsfilm.
Das romantische Melodram »Körper und Seele«, ihr fünfter Film, wurde 2017 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Ein Jahr später war diese Beschäftigung mit dem durch Professionalisierung verstellten Blick aufs wahre Leben als bester internationaler Film für einen Oscar nominiert. »Die Geschichte meiner Frau« lief 2021 im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes.