1930 zählte das Unternehmen 22 Filialen

»Schocken — Ein deutsches Leben« von Noemi Schorys

Noemi Schorys Porträt eines bibliophilen Unternehmers reißt nicht nur persönliche Geschichten an

Ein Rabbi soll ihm den Rat gegeben haben, dass es sich mit einem vollen Magen besser studiere. Also entschied sich der kulturhungrige Salman Schocken doch für die kaufmännische Lehre, um 1904 mit seinem Bruder Simon in Oelsnitz im Erzgebirge das erste Kaufhaus zu eröffnen. Bald folgten Gründungen in Zwickau, Nürnberg, Stuttgart und weiteren Städten, bis zum Jahre 1930 zählte das Unternehmen 22 Filialen. Wegweisend waren nicht nur die schnörkellosen, von der Bauhaus-Architektur beeinflussten Gebäude, die der Pionier der Stromlinien-Moderne Erich Mendelsohn für die viertgrößte Warenhauskette Deutschlands baute. Mit seinen Bemühungen um die Demokratisierung des Konsums und eine gute Arbeitsatmosphäre verkörperte Schocken auch einen neuen Typus von Unternehmer.

In ihrer Dokumentation kontrastiert Noemi Schory die Erzählung von der Warenhausblüte mit heutigen Bildern der verödeten Fußgängerzone in Zwickau und leerstehenden ehemaligen Schocken-Gebäuden. »Tolle Sachen für wenig Geld« ist auf der Fensterscheibe eines geschlossenen Kaufhauses zu lesen. »Schocken — ein deutsches Leben« erzählt die Biografie des bibliophilen Entrepreneurs materialreich, aber auch ohne Widersprüche und Fragen. Im zügigen Tempo reihen sich Archivbilder an Interviews mit Expert*innen aus Architektur, Literatur und Geschichte, mitunter verfallen die Erzählerstimmen dabei in einen etwas hagiografischen Tonfall.

Die Verbindung von modernem Unternehmertum und kultureller Förderung macht Salman Schocken sicherlich zu einer Ausnahmefigur. Dass sich für den aus der polnischen Provinz stammenden Autodidakten die Distanz zum deutschen jüdischen Bürgertum nie ganz auflöste, bestärkte seine lebenslange Mission, sich der Förderung der jüdischen Kultur zu widmen. Neben anderen Aktivitäten gründete er 1931 in Berlin den Schocken Verlag, in dem unter anderem das Werk Franz Kafkas erschien. Seine eigene Bibliothek nannte er ein »autobiografisches Denkmal«. Noch bevor die Nazis die Warenhäuser beschlagnahmten und die Schließung des Verlags verfügten, emigrierte er nach Palästina, wo er die liberale Tageszeitung »Haaretz« kaufte. Dass jede der vielseitigen Tätigkeiten Schockens ein neues Kapitel für sich aufschlägt, lässt sich kaum erzählen. Vieles bleibt angerissen, vom Zionismus über den Bevölkerungsschwund in ostdeutschen Städten bis hin zum anhaltenden Antisemitismus und den Morden des NSU. Ausgerechnet ein Haus der Schocken-Siedlung diente den neonazistischen Terroristen als letztes Versteck.

ISR/D 2021, R: Noemi Schory, 82 Min.