Zwischen Agbogbloshie und Mannheim

»Große Freiheit« von Sebastian Meises

Sebastian Meises Drama erinnert an die Terrorisierung Homosexueller durch den Rechtsstaat

Als er die tätowierten Ziffern auf dem Unterarm des Mithäftlings bemerkt, ist Viktor (Georg Friedrich) perplex. Zwar hat der grobe Kerl mit Gewalt verhindern wollen, dass ihm ein »175er« als neuer Zellengenosse zugeteilt wird. Dass Hans (Franz Rogowski) nach der Befreiung aus einem KZ für seine Reststrafe wegen »Unzucht« ins Gefängnis muss, erscheint aber sogar dem homophoben Totschläger pervers. Im Kontrast zu Viktors widerwilligem, instinktivem Humanismus wirkt der kühle Terror, den der Nachkriegs-Rechtsstaat in »Große Freiheit« entfaltet, umso haarsträubender: Das gilt für die höfliche Strenge, mit der ein US-Soldat im Dienst der Besatzungsbehörden Hans 1945 vor Fluchtversuchen warnt, wie für die nachlässige Routine, mit der ein bundesdeutscher Richter den Protagonisten 1957 zur erneuten Haft verurteilt.

Da sich die dritte Zeitebene des Films auf die Jahre 1968–69 erstreckt, gipfelt die vor und zurück springende Handlung im historischen Moment, in dem die Reform des Paragraphen 175 schwulen Sex immerhin weitgehend von Strafandrohung befreite. So werfen Regisseur Sebastian Meise und sein Co-Autor Thomas Reider implizit die Frage auf, was diese relative Freiheit für einen Menschen bedeuten mag, der sein Leben lang kriminalisiert wurde.

Folgerichtig ist das Geschehen fast ausschließlich innerhalb der Mauern einer (realen ehemaligen) Haftanstalt angesiedelt, in der sich die spezielle Diskriminierung abzeichnet, denen schwule Insassen unterlagen und womöglich noch unterliegen. Allerdings vermeidet Meise alle Klischees, die im Gefängnisfilm-Subgenre mit Homosexualität verknüpft sind und in ihrer spekulativen Drastik oft homophob wirken. Dabei umfasst die kammerspielartige Figurenkonstellation neben dem lebenslänglich einsitzenden Viktor, dem der Protagonist stets wieder begegnet, zwei Männer, mit denen er auch ‚draußen’ Beziehungen unterhielt.

Kamerafrau Crystel Fournier, die mehrfach für Céline Sciamma gearbeitet hat, fängt die sparsame Handlung wiederum in angemessen eng gerahmten Bildern, limitierten Farben und kühlem Licht ein — bis jede Episode in der völligen Finsternis einer Isolationszelle mündet. Das bringt Hans’ Entpersönlichung eindrücklich auf den Punkt und nimmt bezeichnenderweise einen Augenblick in Freiheit vorweg, der subtil die Frage aufwirft, ob Männern wie Hans realistischerweise noch andere Möglichkeiten zur Selbstermächtigung blieben, als die Entpersönlichung unter trotzig verkehrten Vorzeichen zu reproduzieren.

D 2021, R: Sebastian Meise, D: Franz Rogowski, Georg Friedrich, Thomas Prenn, 117 Min.