Da war alles noch gut: Flausen Kongress 2019, Foto: Robin Junicke

Habt Flausen im Kopf!

Im Freien Werkstatt Theater trifft sich die Freie Szene zur kreativen Aufarbeitung der Krise

Berlin, Leipzig, Köln: Zwischen diesen drei Städten findet an einem Freitagvormittag unser Gespräch statt. Felix Worpenberg und Nai Wen Chang, beide Theaterschaffende, beide konzipierende Köpfe des Flausen-Kongresses, sitzen vor ihren Bildschirmen. Jeder in seinem eigenen Zuhause, jeder ein bisschen ruckelig und verschwommen, fast wie damals, als die Pandemie gerade erst angefangen hatte, unsere Be­geg­nungen zu verändern. Und irgendwie passt die Erinnerung an diese Zeit zu unserem Gespräch, denn bei der dritten Ausgabe des bundeswei­ten Netzwerktreffens geht es genau darum: »Die Kunst der Krise« lautet das Motto. Ist nun der Augenblick für eine postpandemische Rückschau gekommen?

Mehr als ein Jahr haben Felix Worpenberg und Nai Wen Chang an dem Programm zum Kongress gearbeitet. Initiiert wird er vom Flausen-­Netzwerk, zu dem sich seit 2011 28 Theaterhäuser der freien Szene zusammengeschlossen haben. »Uns geht es dabei um die Frage: Was für eine Beziehung ­wollen wir miteinander haben? Für wen machen wir unsere Kunst? Aber auch: Wie wollen wir miteinander arbeiten?«, resümiert Nai Wen Chang in Berlin. Sie ist selbst freie Regisseurin und sagt: der Lockdown und die existentiellen Sorge und Nöte, die er ausgelöst hat, würden bei ihr noch nachwirken. Und Felix Worpenberg meint: »Die Krise hat uns ganz konkret vor das Problem gestellt, was wir als Künstler*innen eigentlich machen können, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen, wenn Veranstaltungen ausfallen müssen.«

Einen Umsatzverlust von 85 Prozent hat der Markt für Darstellende Künste im Jahr 2020 zu verzeichnen. Zu diesem Schluss ist eine aktuelle Studie des Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes gekommen. Besonders betroffen: Freischaffen­de Künstler*innen, die ohne wirtschaft­liche Absicherungen wie etwa Kurz­arbeitsgeld »signifikante finanzielle Verluste« erlitten haben. Das schreibt im Juni 2021 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Sachstand und stellt mit aller Deutlichkeit fest: Die Förder- und Hilfsprogramme auf Bundes- und Landesebene konnten diese Verlust »nur ansatzweise kompensieren«.

Auch darüber müsse man nun sprechen, meinen Felix Worpenberg und Nai Wen Chang. Auf dem Kongress, der in diesem Jahr erneut im Freien Werkstatt Theater in Köln stattfinden wird, wollen sie ge­mein­sam mit den Teilneh­mer*innen über neue Fördermöglichkeiten diskutieren. Ein Modellprojekt, wie man Künstler*innen von den starren Strukturen der klassischen Förderanträge befreien kann, liefert das Netzwerk selbst. Seit 2010 vergibt es unter dem Motto »Habt Flausen im Kopf« das Stipendium »flausen young artists in residence«. Vier Wochen lang können freie Theaterschaffende ohne Finanzierungsdruck arbeiten — und ohne Druck, am Ende der Stipendiumszeit ein fertiges Stück zeigen zu müssen. Denn bei dieser Förderung geht es darum, einen Forschungsprozess zu unterstützen, einen Raum zu geben, um Themen und Fragestellungen nachzugehen, mit offenem Ausgang. »Eine Begegnung mit dem Publikum gibt es nach vier Wochen schon, aber eben nicht als klassische Premierenaufführungen«, erzählt Felix Worpenberg. Statt dessen geben die Künstler*innen beim »Making-of« Einblicke in ihren Prozess, etwa in Form von szenischen Beiträgen und Gesprächen.

Zu eng und starr seien die klassischen Förderstrukturen, das habe die Krise gezeigt, finden die beiden Organisator*innen. Denn als alle Veranstaltungen abgesagt wurden, mussten auch auf Landes- und Bundesebene neue Programme erdacht werden. Um der Lebensrealität freischaffender Künstler*innen gerecht zu werden, muss das auch weiterhin so bleiben, fordern Felix Worpenberg und Nai Wen Chang — und zu diesem Fazit kommt auch die Koalition der Freien Szene in Berlin, gegründet 2011 als spartenübergreifende, offene Plattform, um auf Fehlentwicklungen im Berliner Kulturhaushalt aufmerksam zu machen. In ihrer aktuellen Befra­gung zeigte sich: In Ämtern, Jobcentern und Familienkassen wüssten viele Mitarbeitenden überhaupt nicht, wie freischaffen­de Küns­tler*innen arbeiten. Warum haben die Antragsstellenden nicht jeden Monat eine feste Summe auf dem Konto, wieso werden Honorare erst nach einem Jahr gezahlt? Gerade an den entscheidenden Stellen gäbe es häufig ein Unverständnis. Die Plattform fordert daher Aufklärung und Weiterbildung — und Förderungen, die sich auf Produktionsphasen beziehen und nicht nur auf Produktionen, die mit Probe­beginn anfangen und mit der Premiere enden.

Mit Impulsbeiträgen, Paneldiskussionen und Workshops will sich der Flausen-Kongress nun diesem Umdenken nähern und Veränderungen anstoßen — gemeinsam. Denn was geblieben ist, auch nach der Krise, ist der Gedanke der Solidarität. »Wir wollen die Erfahrungen der anderen hören«, sagt Nai Wen Chang am Ende unseres Gespräches, »und darüber sprechen, wie wir uns künftig besser unterstützen und absichern können.«

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