Alles auf Zucker: Dorothee Elmiger, Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Superschurke Zucker

Dorothee Elmiger erkundet die Zusammenhänge von Hunger, Körper und Diskurs

»Aus der Zuckerfabrik« lässt sich in kein starres Gattungskorsett zwängen. Trotzdem, oder gerade deshalb, hat es die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger im letzten Jahr Werk bis auf die Shortlist des Deutschen und des Schweizer Buchpreises geschafft. Die Lektüre ihres unkonventionellen Textkörpers ist, in Elmigers eigenen Worten gesprochen, eine »Zumutung«. Doch wer sich auf das literarische Experiment einlässt, wagt mit der Autorin den Versuch, ökonomisch vereinnahmte Körper jenseits herrschender Diskurse zu denken.

»MY SKILLS NEVER END« steht in großen Lettern auf dem Shirt eines haitianischen Feldarbeiters. Während sein Körper auf den Zuckerrohrplantagen unter den kapitalistischen Produktionsformen leidet, steht zur anderen Zeit an anderer Stelle der Schweizer Lottokönig Werner Bruni am Strand Haitis und genießt das kurzweilige Entkommen seines proletarischen Daseins. Mit dem Verlust seines Vermögens und der Versteigerung zweier haitianischer Frauenfiguren beginnt schließlich die Recherche des literarischen Ichs, das ein Sammelsurium an Dialogen, Traumsequenzen, Filmszenen und historischen Quellen zusammenträgt. In Dorothee Elmigers Buch kollidieren historische und literarische Fragmente miteinander, sie spürt Brüche und Verschiebungen eines bestehenden Narrativs auf. So stolpert man durch die Lektüre und fragt sich, was den bekannten Psychiatriefall der hungerstreikenden Ellen West, mit der Zuckersucht des Ökonomen Adam Smith oder dem Aufstand des antikolonialistischen Revolutionärs Toussaint Louverture verbindet.

Am Ende ist es der Zucker, der sich durch alle Zeitensprünge und Themenwechsel zieht und für Genuss und Begierde, aber auch für Abhängigkeit und Ausbeutung steht. Dem Konsum voraus geht der Hunger, das Verlangen nach körperlicher Kontrolle und Macht, dem auch die Ich-Erzählerin im Philadelphia der Gegenwart unterliegt. Mit der stilistischen Umkehrung von Max Frischs Liebesreisetagebuch »Montauk« erkennt sie, dass sich ihr weiblicher Körper immer nur als ein den herrschenden Ordnungsgefügen unterworfener versteht: »Es ist mein Körper, der da liegt, zwischen den verstreuten Dingen anderer, der zutiefst verwickelt ist in alles, was passiert, und das, was ich zuvor als Material abgelegt habe.« Elmigers Textkorpus gilt es trotz aller Irritationen auszuhalten, um Zwischenräume zu öffnen für all jene entfremdeten Körper, die im geordneten Diskurs keinen Platz mehr finden.

Buch: Aus der Zuckerfabrik, Hanser Verlag, München 2020, 270 S., 23 Euro