Wunder gibt es immer wieder: Hallelujah!

»Benedetta« von Paul Verhoeven

Kann man mit Todsünden das Publikum reizen? Paul Verhoeven stellt uns auf die Probe

»Benedetta« geizt nicht mit visuellen Reizen. Schwelgerische Bilder in kraftvollen Farben zeigen scheinbar alles: Göttliche Visionen werden ins Bild gesetzt wie ein psychodelischer Traum in Hippiefilmen der frühen 1970er. Korrupte Pfaffen rollen böse mit den Augen oder lassen ihre Mundwinkel zynisch zucken. Schöne Frauen wandeln leichtbekleidet oder gleich ganz nackt mit wogenden Brüsten durch eine Szene. Alles ist auf geschmacklose Weise geschmackvoll, manchmal »guter Trash«, wie in alten »Mitternachtsfilmen« und über jeden schlichten Naturalismus intensiv erhaben bis hin zu einer vibrierenden Hyperrealität. Oder passiert doch alles in unserer Phantasie und diese Bilder triggern mehr als sie wirklich zeigen? Zugleich ist »Benedetta« nämlich ein seltsam kühler, distanzierter Film. Keineswegs werden in ihm voyeuristische Gelüste billig bedient, auch Vorlagen für die Befriedigung schlichter Instinkte gibt es nicht.

Dem Unkonventionellen und Provokativen galt schon immer das Haupt­interesse von Regisseur Paul Verhoeven. Mit fast jedem seiner Filme gelingt es ihm, Debatten und Skandale auszulösen. Eine gewisse Lust an dem, was man heute »Trollen« nennt, ist unübersehbar. Auch mit über 80 und fast 30 Jahre nach seinem Welterfolg »Basic Instinct« hat Verhoeven viel Spaß daran, der Gesellschaft ihre Doppelmoral und den Tugend­wächter:innen ihre Untugend vorzuhalten. In »Benedetta« geht es ihm nun um die Abgründe der Religionsgeschichte in den (ex-)christlichen Ländern Europas.

Die Handlung, die auf die historische Geschichte der Benedetta Carlini zurückgeht, dreht sich um die Titelfigur, gespielt von Virginie Efira. Sie wird bereits als Kind von ihrer reichen Familie ins Kloster gebracht und besitzt von Anfang an eine offenbar starke spirituelle Kraft. Sie hat Visionen, »tut Wunder«, die von der Kirche anerkannt werden und ist eine Art Klassen­primus unter den Novizinnen. Doch als sie mit Bartolomea (Daphne Patakia), einer »gefallenen« Frau, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann ins Kloster flieht, eine neue Zellengenossin bekommt, entdeckt sie die Liebe für sich. So verwandelt sich die frühneuzeitliche Touristenattraktion in einen Fall für die Inquisition — und das ausgerechnet in einer Zeit, in der in Norditalien die Pest erneut ausgebrochen ist.

Die prinzipielle Frage in diesem Fall lautet: Geht Verhoevens Grundansatz, im Kino alles zu zeigen bis hin zur Peinlichkeit, oder über sie hinaus, auch in diesem Fall auf? Religiöse Doppelmoral, das gestörte Verhältnis von Sexualität und Kirche und das Dasein der Nonnen waren regelmäßig Gegenstand des Kinos. So unterschiedliche Regisseure wie Luis Bunuel, Ken Russell und Jacques Rivette konnten sich der offenbar vorhandenen Faszination für die geschlossene Klosterwelt nicht entziehen.

Gegenüber diesen Filmemachern nimmt Verhoeven allerdings die religiöse Erfahrung selbst überraschend ernst. Er hält es für möglich, dass zumindest die Hauptfigur Benedetta alles glaubt, was sie sagt und tut. Dass sie über­zeugt ist, dass Gott durch »meine Hände ein Wunder vollbringt«. Hier ist Naivität nicht von Fanatismus zu unterscheiden.

Verhoevens facettenreicher Film ist gelungen, hochunterhaltsam und klüger als er manchmal aussieht. Er zeichnet ein altkatholisch-sattes, grelles Bild der Renaissance voller Vulgäritäten und expliziten Szenen. Dazu gehört nicht nur der Sex im Kloster, sondern auch platzende Pestbeulen, Autodafés auf dem Marktplatz, irr gewordene oder hysterische Nonnen und betont kitschig-süßliche Christusvisionen, in denen der Heiland aussieht wie ein Beau aus der neuesten Jeans-Werbung.

Charlotte Rampling hat einen wunderbar lustigen Auftritt in einer Neben­rolle. Der britisch-französische Weltstar spielt diesmal eine süffisante Abtissin, der nichts Menschliches fremd ist und die schon zu viel gesehen hat, als dass sie Visionen, Pest und Todsünde noch erschüttern könnten.

F 2021, R: Paul Verhoeven
D: Virginie Efira, Daphné Patakia, Charlotte Rampling
127 min