»Hommage an die Utopie und den Utopisten«

Nathalie David, Regisseurin von »Harald Naegeli — Der Sprayer von Zürich«, über die Arbeit mit dem Schweizer Graffiti-Künstler

Harald Naegeli hat erst im zweiten Anlauf in diesen Film eingewilligt. Was ließ ihn zögern?

Die Idee hatte der Produzent Peter Spoerri, der seit Ende der 1970er sämtliche Zeitungsartikel über Harald Naegeli sammelt. Er hat mich 2018 kontaktiert. Ich habe Naegeli später mit der Hand einen Brief geschrieben, ob er Lust habe, mit mir einen Film zu konzipieren. Er hat abgelehnt, er sei zu alt und zu krank, aber hat mich in seinen E-Mail-Verteiler aufgenommen. In einer Mail schrieb er, dass es ihm sehr schlecht gehe und der Tod nahe sei. Daraufhin habe ich noch einen Brief geschrieben. Ich schrieb, dass ich eine Hommage an die Utopie und den Utopisten machen wolle — und durfte ihn daraufhin in seinem Düsseldorfer Atelier besuchen. In einem mehrstündigen Gespräch konnte ich ihn schließlich überzeugen.

Naegeli ist 81 und an Krebs erkrankt, welchen Einfluss hatte das auf die Dreharbeiten?

Wir waren beim Drehen oft allein, und der Tod war immer da. Ich war jeweils drei Stunden bei ihm. Die erste Stunde haben wir uns gegenseitig gezeichnet, das war unser Ritual. Es hat ihn glücklich gemacht. Auch wenn er spricht, hat er im­­mer einen Zeichenblock bei sich. Anschließend haben wir zusammen eine Stunde gegessen, und dann eine Stunde gedreht, bis er sagte: »Ich kann nicht mehr, ich bin müde und muss mich hinlegen.«

Wir sehen Naegeli, der laut lacht über all das, was er im Lauf seiner Sprayer-Karriere bewirkt beziehungsweise angerichtet hat. Aber er wirkt in manchen Szenen auch barsch und unwirsch. War er ein unberechenbarer Protagonist?

Nein. Dadurch, dass er Krebs hat, konnte er sich mir gegenüber alles erlauben. Er konnte sagen, dass er nicht mehr kann und nicht mehr will. Wenn er sagte: »Hören Sie jetzt auf mit den Scheißaufnahmen«, dann war das okay. Das haben wir im Film gelassen, denn so ist er.

Mehrfach musste Harald Naegeli wegen seiner Kunst Haftstrafen antreten. Was sagt das über das Verhältnis einer Gesellschaft zu ihren Künstler*innen aus?

Das ist furchtbar. Dass man ihn für seine Kunst in einen Hochsicherheitstrakt steckt, ist unglaublich. Sein Anwalt hat versucht, ihn da rauszuholen, aber die Staatsanwaltschaft hat das abgelehnt, weil er begreifen müsse, dass man das, was er mache, nicht darf. Da stößt man als Künstler*in an einen Staatsapparat und denkt sich: »Das kann doch nicht sein!« Aber inzwischen habe ich mich ausgiebig mit der Schweiz befasst und wundere mich auch nicht mehr, dass dort die Frauen lange nicht wählen durften.

Aktuell zeigt sich die Ambivalenz, wenn die Stadt Zürich Naegeli 2020 den Großen Kunstpreis verleiht und der Kanton Zürich ihn zeitgleich wegen Sachbeschädigung verklagt.

Absolut absurd! Das ist der Einfluss der Schweizerischen Volkspartei, die sehr weit rechts steht. Im Film sieht man das auch an dem Baudirektor, der zu mir sagte: »Was wäre denn, wenn jemand auf Ihre Jacke sprayen würde?« Ich habe geantwortet: »Das kommt ganz drauf an, was es ist«. Aber das hat er nicht verstanden. Es dauert wohl noch, bis die Schweiz befreit wird.

Naegeli selbst bezeichnet sich einmal als Bürger, der sich schämt, Verbotenes zu tun, während sich der Künstler in ihm genau darüber und über seine Utopien freue. Wie gestaltet sich dieser innere Zweikampf?

Ausgeglichen. Harald Naegeli gehört zur Großbourgeoisie von Zürich. Seine Mutter war Malerin und Anarchistin, ein Onkel war Schauspieler, der Großvater war ein Mäzen, der in Zürich viele Skulpturen erwarb. Das alles ist in ihm drin. Das sind Leute, die haben Geld, und die wollen, dass Bewegung kommt in ihre Städte. Er kommt aus dieser Familie und kann nicht anders. Er sagt, er habe die Lust am Streiten von seiner Mutter geerbt.

Naegeli versteht seine Graffiti immer auch als Kapitalismuskritik?

Er sprayt — oder zeichnet — auf Wände von Gebäuden, die eine bestimmte Bedeutung haben. Ihm ist wichtig, dass seine Graffiti richtig platziert sind, nicht beliebig. Beispielsweise an Institutionen wie dem Kunsthaus Zürich, und dort direkt hinter der Skulptur »Das Höllentor« von Auguste Rodin. Er ist drin im Kapitalismus, aber dort zeigt er mit seiner Kunst auf Dinge, die wir als Laien nicht sehen. Er kann zu­­dem Dinge machen, die sich andere finanziell gar nicht leisten können. Nicht zuletzt gibt er alles Geld, das er bekommt, an Tierschutz­orga­nisationen oder soziale Einrichtungen. Er ist ein sozialer Künstler, wie Joseph Beuys über ihn sagte.

In Briefen beklagt er sich, dass seine Schenkungen abgelehnt werden, unter anderem auch von der Kunstsammlung NRW. Ist das auch verletzte Eitelkeit oder das Gefühl angesichts des nahenden Todes, nicht angemessen gewürdigt zu werden?

Beides. Er hat wie viele Künstler ein großes Ego, aber er will auch die Mechanismen der Museen offenlegen. Er macht sich Gedanken über seinen Nachlass und will diesen schenken. Aber die Direktorin der Kunstsammlung NRW nimmt ihn nicht an — ohne Angabe von Gründen. Auch da ist er ein Rebell innerhalb der Kunstinstitutionen, und er hat vor niemandem Angst. Das ist das Naturell des Sprayers!