Gans und gar nicht

Restaurants und Lieferdienste werben nun ­wieder für Gänsebraten. Wie viel Tradition braucht Kulinarik?

Ohne Unvernunft wäre unsere Kultur nicht denkbar. In Köln, wo selbst in einer Pandemie das Weltkulturerbe Karneval gepflegt wird, ist das leicht einzusehen. Das Irrationale betrifft auch die Kulinarik. Es gibt die absurdesten Ideen, von grauer Vorzeit an bis in unsere Gegenwart. Vernünftigerweise ist Bubble Tea ja auch kaum zu erklären.

Nicht alle diese Erscheinungen sind kurze Moden. Aber vieles, was heute als kulinarisch hochstehend gilt, war einst aus der Not geboren. Eine der erstaunlichsten Traditionen in Zeiten einer durch Industrialisierung gesicherten Nahrungsmittelversorgung ist es wohl, überhaupt noch Tiere zu essen. Dass es doch geschieht, hat freilich Gründe: kulinarische Verfeinerung ebenso wie die Ritualisierung des Verzehrs, also Geschmack und Gemeinschaft. Eine dieser Traditionen ist der Gänsebraten zur Weihnachts­­zeit; begründet darin, dass angeblich Martin, der später Heilige, sich heute vor genau 1650 Jahren in einem Stall versteckte, um nicht zum Bischof ernannt zu werden — aber schnatternde Gänse  verrieten ihn! Ursprünglich briet man die Gänse daher am Martinstag, damals der letzte Tag vor der weihnacht­lichen Fastenzeit. Wer darüber den Kopf schüttelt, sollte bedenken, dass auch heute zu jedem Food-Trend eine »Story« gehört.

Natürlich versiegt die Tradition, aber in der Gastronomie gehört zur Weihnachtszeit neben Glühwein und typisch aromatisiertem Gebäck eben auch die Weihnachtsgans. Restaurants und Lieferdienste werben derzeit dafür. Allein in Nordrhein-Westfalen gab es vergangenes Jahr etwa 560 Betriebe, in der 76.400 Gänse zum späteren Verzehr gehalten wurden.

Der Gänsebraten wird aber nicht nur von Tierschützern attackiert, sondern auch von der Geflügelpest. Bis zu einem Viertel weniger Gänse seien ihretwegen gegenüber dem Vorjahr auf dem Markt, so Fachleute. Die Preise steigen, das Angebot sinkt.

Die Gans verweist übrigens noch in einem anderen Fall auf das Irrationale: Die Gänsestopfleber ist ethisch durch nichts zu rechtfertigen. Dass ihre Zubereitung schmeckt — wenn man das Leid des ­Tieres verdrängt — gehört zu den vielen Widersprüchen unserer Esskultur, ja, unserer Kultur überhaupt.