Obdachlos in Köln

Auf den Straßen der Innenstadt bekommt man den Eindruck: Nie gab es so viele Obdachlose, nie war ihr Elend so groß wie seit Beginn der Corona-Pandemie. Bürgervereine und Geschäftsleute protestieren und fordern, dass die Stadt end­lich mehr tun soll. Nun hat der Stadtrat neue Hilfen beschlossen. Es soll mehr Unterkünfte und Streetworker geben. Aber reicht das?

Der Eigelstein war nie ein ordentliches Viertel. Trinker und  Bettler haben hier immer dazugehört, das bringt schon die Nähe zum Bahnhof mit sich. Doch wenn man Burkhard Wennemar glaubt, dann droht das Viertel seit ein, zwei Jahren zu kippen. »Wir haben hier immer mehr Obdachlose, die sich zum Teil hemmungslos betrinken und ihre Notdurft in Hauseingängen verrichten«, so Wennemar, der dem Bürgerverein Eigelstein vorsitzt. Diese Menschen träten zunehmend aggressiv auf. Im Juli verletzte ein Mann, der in einer von der Stadt angemieteten Notunterkunft in der Plankgasse untergebracht war, zwei Polizisten schwer. Am selben Tag wurde ein stark betrunkener Obdachloser auf der Machabäerstraße überfahren, er hatte sich offenbar einfach auf die Straße gelegt, der Autofahrer ihn angeblich nicht gesehen. Der Obdachlose überlebte schwer verletzt. »Das war für uns der Punkt, an dem wir gesagt haben: So kann es nicht weitergehen«, sagt Wennemar. Er schloss sich mit inzwischen 13 anderen Vereinen und Interessensgemeinschaften zu einem »Bündnis Innenstadt« zusammen, dabei sind etwa die Bürgerinitiative »Zukunft Neumarkt« oder »Gastro Kwartier Latäng«. Das Problem betref­fe die gesamte Innenstadt, so Wennemar. »Wegen Corona waren die Straßen leerer. Die Obdachlosen sind in den freien Raum hineingestoßen.«

Das Bündnis fordert, dass die Stadt endlich etwas unter­nehme. Sätze wie, dass man »da mal was tun müsse« oder dass es »ganzheitliche Konzepte« brauche, hätten sie oft genug gehört. »Wir haben nichts gegen den klassischen Clochard. Den wird es wohl immer geben«, sagt Burkhard Wennemar. Aber die Stadt müsse endlich die »Auswüchse« bekämpfen — vor allem mit Hilfen, aber auch, indem sie für »mehr Recht und Ordnung« sorge.

Gibt es in Köln tatsächlich mehr Obdachlose? »Wir haben jedenfalls keinen dramatischen Anstieg zu verzeich­nen«, sagt Harald Rau, Sozialdezernent der Stadt Köln. Nach seinen Informationen halten sich schätzungsweise 200 bis 300 Obdachlose in Köln auf — eine Zahl, die die Stadt seit Jahren nennt. Rau beruft sich auf Rückmeldungen von Streetworkern. »Von dort höre ich, dass die Zahlen zwar nicht gestiegen seien, dass aber die Fallschwere zugenommen hat«, so Rau. Das Leben auf der Straße sei mit enormen seelischen und körperlichen Strapazen verbunden. »Es gibt eine große Prävalenz von psychischer Auffälligkeit«, sagt Rau. »Ständig der Unbill des Wetters und den Menschen um einen herum ausgeliefert zu sein, macht ängstlicher, misstrauischer und vielleicht auch ausfallend. Das Suchtverhalten ist zum Teil auch ritualisiert und verfestigt sich dadurch.« Aber auch die körperliche Gefährdung nehme zu. »Das berichtet der Mobile Medizinische Dienst, der für alle obdachlosen Menschen erreichbar ist«, so Rau.

Was aber deutlich gestiegen ist, ist die Zahl der »Wohnungslosen« — also derjenigen, die keinen eigenen Mietvertrag haben, aber regelmäßig etwa in Notunterkünften, bei Bekannten, in stationären Einrichtungen und teils in Geflüchteten-Unterkünften unterkommen. Ihre Zahl stieg innerhalb eines Jahres um rund 1000 auf 7200. In Köln sei die Zuwanderung von Menschen aus EU-Osteuropa deutlich sichtbarer geworden, aber ihnen habe die Stadt im vergangenen Jahr helfen können, sagt Rau.

Seit drei Jahren gibt es für diese Menschen eine Notunterkunft an der Vorgebirgsstraße am Volksgarten in der Südstadt, getragen vom Sozialdienst katholischer Männer (SKM). Anfangs konnte man dort nur übernachten, viele Menschen waren in einem Raum zusammen, es kam zu Problemen. Mittlerweile gebe es auch Aufenthaltsmöglichkeiten über Tag, ebenso Beratungen und Verpflegung, betont Rau. Auch Schließfächer gebe es nun, denn es hatte Klagen über Diebstahl gegeben.

»Ich habe immer wieder Hinweise von Fachleuten bekommen, dass wir hier ein deutschlandweit ziemlich einzigartiges Angebot haben, um Menschen aus Osteuropa strukturiert Hilfe anzubieten«, sagt Rau. »Insofern sagen wir in der Sozialverwaltung, aber auch die Träger, die das realisieren, dass wir einen relativ guten Stand haben in unserer Obdachlosenpolitik. Unsere Angebote sind relativ differenziert, vielseitig und sehr niederschwellig und wir passen sie kontinuierlich an. Dennoch gibt es Elend, und das ist schockierend zu sehen.«

In Bezug auf Covid-19 habe man allemal rechtzeitig reagiert, sagt Rau. »Wir haben viele Obdachlose impfen können, hatten mit dem Wärmezelt im Winter zusätzliche Angebote geschaffen. Die Station an der Vorgebirgsstraße ist weniger dicht belegt, weil wir an der Ostmerheimer Straße eine weitere Unterkunft bereitgestellt haben, zu der wir Busse haben fahren lassen.« All das sei rechtzeitig zum Wintereinbruch 2020/2021 geschehen. Auch jetzt seien diese Angebote geplant, sagt Rau »Wir sind aktuell nicht spät dran. Hilferufe, wo es um Leben und Tod geht, gibt es derzeit nicht. Zudem hat der Rat gerade die Ausweitung der Winterhilfe beschlossen.«

Der Grünen-Politiker Andreas Hupke ist seit 17 Jahren Bezirksbürgermeister der Innenstadt. Jeden Tag streift Hupke durch seinen Bezirk, auch dort, wo es nicht schön ist. Wenn er mit dem Fahrrad in sein Büro fährt, trifft er häufig bekannte Gesichter an den Straßenecken und Haus­eingängen. Viele Obdachlose kennt er, weil sie seit Jahren an derselben Stelle sitzen. »Ich bin der Seismograph des Volkes«, sagt Hupke. »Ich bekomme Veränderungen früh mit.« Hupke lebt seit Anfang der 70er Jahre im Kwartier Latäng. »Auf der Straße schreitet eine Dramatik voran mit einer tickenden Zeitbombe.« Seit Jahren nehme die Obdach­losigkeit rapide zu, doch die Stadt komme dieser Herausforderung nicht adäquat hinterher. »Dass die Verwaltung immer noch von 200 bis 300 Leuten auf der Straße redet, ist absolut weltfremd!«

Auch die zunehmende Verelendung macht dem Bezirks­bür­germeister Sorgen. »Den kölschen Clochard, der ja auch oft romantisiert wurde, gibt es so gut wie gar nicht mehr.« Statt­dessen seien die Menschen oft in schlechter Verfassung. »Ich bin christlich-humanistisch erzogen. Da kann man nicht einfach zuschauen, wie die Leute auf der Straße sterben«, sagt Hupke. Er sieht in der derzeitigen Situation eine »Bank­rott-Erklärung« von Verwaltung und Politik. »Ohne das ehrenamtliche Engagement oder die Hilfe zur Selbsthilfe, wie sie viele Träger umsetzen, wäre die Situation noch schlimmer. Dann gäbe es mitten in Köln eine Massen-Verelendung.« Die Stadtverwaltung habe zehn Jahre lang beim Thema EU-Wirtschaftsflüchtlinge weggesehen. Mit Ausnahme der Notunterkunft an der Vorgebirgsstraße mache die Stadt diesen Menschen keine Hilfsangebote. »Aber die Vorgebirgsstraße ist wahrlich kein Leuchtturm, wie viele sagen.« Die Menschen müssten zusätz­lich viel stärker thera­peutisch und sozialarbeiterisch begleitet und vor allem beschäftigt werden — etwa mit einer Fahrradwerkstatt, die auch eine Tagesstruktur böte. »Einfach nur nachts darin einweisen, löst deren massive Pro­bleme nicht.«

Wenn es nach Hupke ginge, würde das Thema Obdachlosigkeit aus dem Sozialdezernat ausgegliedert und dafür eine Stabsstelle im Büro der Oberbürgermeisterin eingerichtet. »Für mich hat das Sozialdezernat versagt. Ein Sozial­dezernent könnte viel erreichen, wenn er mit der Faust aufs Pult hauen, Personal einfordern und die Politiker im Rat überzeugen würde. Aber es kommt nichts!«

Wohl kaum jemand kennt den Alltag der Kölner Obdachlosen so gut wie Christina Bacher. Sie ist seit 15 Jahren Chefredakteurin des Draussenseiter, der ältesten Straßenzeitung Deutschlands. Die Shutdowns in der Corona-Pandemie hätten für die Obdachlosen vieles zum Schlechten verändert, sagt Bacher. »Sie hatten kein Geld mehr für den normalen Tagesbedarf, weil Betteln und Flaschensammeln kaum noch möglich waren.« Auch der Zugang zu Toiletten, zum Händewaschen sei vielen versperrt gewesen, weil Restaurants und Cafés geschlossen waren. Während der Ausgangssperre blieb ihnen nach 21 Uhr keine Wahl als gegen das Gesetz zu verstoßen, sobald sie von ihrer »Platte« aufstanden. Und, am schlimmsten: Alle Zeitungsverkäufer berichteten ihr, dass die Gewaltbereitschaft seit Beginn der Pandemie extrem zugenommen habe. »Ein Obdachloser, der inzwischen verstorben ist, er­­zähl­te mir, dass er beinahe jede Nacht angegriffen wurde — meist von Jugendlichen«, so Bacher.

Längst nicht alle Angriffe werden aktenkundig. Trotzdem erfasste die Kölner Polizei im Jahr 2020 insgesamt 186 Straftaten, bei denen Obdachlose die Opfer waren — das sind 66 Fälle mehr als 2019 und 103 Fälle mehr als 2018. Auch im laufenden Jahr hält der Anstieg der Straftaten an — derzeit gebe es vor allem Angriffe auf Obdachlose, bei denen sie mit Farbe übergossen werden, so eine Sprecherin.

Droht die Innenstadt zu kippen, wie die Bürgervereine beklagen? Ihre Zeitungsverkäufer könnten das nicht unbedingt erkennen, sagt Christina Bacher. Natürlich sei der Ton auf der Straße rauh, auch gebe es mehr und mehr kulturelle Konflikte in der Szene. Aber am Neumarkt, wo sich hauptsächlich Drogenabhängige aufhalten, habe es schon immer so ausgesehen wie jetzt. »Die Passanten sind vielleicht nicht mehr so tolerant«, so die Worte eines Zeitungsverkäufers.

So hart die Pandemie die Obdachlosen getroffen hat — sie habe auch ein paar gute Dinge gebracht, so Bacher. So öffnete Kardinal Woelki das verwaiste Priesterseminar für Obdachlose, wo sie einige Wochen verpflegt wurden und sich waschen konnten. Der Verein »Helping Hands« mietete Einzelzimmer in der leerstehenden Jugendherberge am Hauptbahnhof an — für einige Obdachlose eine lebensverändernde Erfahrung, so Bacher. Sie fragt: »Warum tut das ein Verein — und nicht die Stadt?« Sie vermisst solche Ideen bei der Verwaltung, aber auch bei manchen Geschäftsleuten und Anwohnern, die sich über den Anblick von Obdachlosen empören. »Wenn diese Menschen nur einen Bruchteil der Energie, die ihre Aufregung kostet, in die Suche nach praktischen Lösungen investieren würden, wären wir schon ein gutes Stück weiter.« Was wäre denn die Lösung? »Für Suchtkranke braucht es Druckräume, für Obdachlose mehr öffentliche Toiletten und für Wohnungslose Wohnungen.« Überall sehe sie Leerstand in der Stadt, sagt Bacher. Wer Wohnraum zu vergeben habe, solle doch mal in Erwägung ziehen, ihn an Obdachlose zu vermieten.

Obdachlosen einfach eine Wohnung geben — das ist das Lebensthema von Kai Hauprich. Er ist Sozialarbeiter im »Vringstreff«, einer Beratungsstelle für Wohnungslose in der Südstadt, und Experte für das Konzept »Housing First«. Obdachlose, so die Idee, sollen ohne Bedingungen eine eigene Wohnung bekommen. Denn erst im nächsten Schritt geht es darum, sie weiter zu stabilisieren oder sozialpädago­gisch zu betreuen. Housing First ist das Gegenteil des vieler­orts praktizierten »Stufenmodells«, in dem Wohnungs­lose zuerst durch Therapien stabilisiert und dann stufenweise an die »normale Wohnung« herangeführt werden: vom Nachtquartier über das Übergangswohnheim zur betreuten WG. Die eigene Wohnung steht ganz am Ende eines langen Hilfe­systems und bleibt oft unerreichbar. US-Städte wie Salt Lake City konnten Obdachlosigkeit mit Housing First um fast 80 Prozent verringern. In Europa setzen vor allem skan­dina­vi­sche Länder auf den Ansatz und verbuchen große Erfolge — während die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland und auch in Köln kontinuierlich steigt. »Der Anstieg der Obdach­losigkeit vollzieht sich nicht sprunghaft, sondern in gleichem Maße, wie der soziale Wohnungsbau abnimmt«, sagt Hauprich. »Obdachlosig­keit ist ein strukturelles Problem und kann nur so gelöst werden.« Der Vringstreff will Housing First in Köln etablieren. Der Sozialträger hat im Januar 2020 auf eigene Kosten, finanziell unterstützt vom Düsseldorfer Verein »Asphalt/Fifty Fifty« und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, ein erstes Appartment für einen Mieter gekauft. Auf Initiative der Grünen beschloss der Stadtrat vor zwei Jahren, Housing First drei Jahre lang zu testen. 5,4 Mio. Euro bewilligte die Politik für die kommenden Jahre — fünf Millionen für die Schaffung von Wohnraum, 400.000 für Personal. »Wir hatten uns total gefreut, dass nun ein Aufbruch passiert«, sagt Hauprich. Nun ist Ernüch­terung eingetreten. Bis heute ist nicht klar, woher das Geld für die Akquise der Wohnungen kommt und wie es ausgegeben werden darf. Bis heute hat die Verwaltung kein Konzept geliefert, obgleich das ihr Auftrag war. Kai Hauprich will nicht mehr warten. »Housing First gibt es seit 30 Jahren, das ist nichts, was man erproben müsste«, sagt er. »Wenn die Stadt mir mehr Geld in die Hand gibt, setze ich das genauso um wie in Amerika, Finnland oder Wien.« Das Projekt im Vringstreff laufe hervor­ragend, mittlerweile habe er acht Mieter in Wohnungen vermittelt. »Ich hätte aber ein Vielfaches an Menschen unterbringen können, wenn wir mehr Personal und vor allem Wohnungen zur Verfügung hätten.« Kürzlich hat Hauprich auf eigenes Engagement eine Koope­­ration mit der Aachener Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft abgeschlossen, die dem Vringstreff Wohnungen bereit­stellt. Doch gerade jetzt, wo das Projekt sich im Vringstreff etabliert hat, droht schon wieder das Ende. »Offiziell läuft das Projekt 2022 aus. Bis jetzt konnte die Stadt uns nicht sagen, wie es weitergeht«, so Hauprich.

Währenddessen steigt die Zahl der Menschen aus ­osteuropäischen EU-Ländern, die auf der Straße leben. Durch die Corona-Pandemie haben viele ihre prekären Jobs verloren und sind in Not geraten. »Das ist kein neues Problem, aber es hat sich durch Corona zugespitzt«, sagt Kai Hauprich. Vor rund acht Jahren hat er im Auftrag des Landes mit der Kölner Obdachloseneinrichtung Gulliver eine Studie zu osteuropäischen Wohnungslosen in Köln geleitet. »Die Leute sagten schon damals eindeutig: Wir werden bleiben, und wir wollen auch arbeiten. Wir brauchen nur Unterstützung.« Hauprich folgerte daraus, dass man das Hilfesystem quantitativ und qualitativ an diese Gruppe anpassen müsse. In Düsseldorf habe man das auch getan, im Gegensatz zu Köln. »Der Anstieg der Ob­dach­losig­keit geht deshalb auch auf ein Verwaltungsversagen zurück«, findet Hauprich.

Auch Jörg Detjen von der Linken im Stadtrat sieht den Ursprung der gesamten Misere in einer verfehlten Wohnungspolitik. Ziel der Stadt war es einmal, jährlich 6000 Wohnungen zu bauen, davon 1000 Sozialwohnungen. »Tatsächlich waren es zuletzt nur 3000, davon 800 bis 900 geförderte — das ist viel zu wenig«, so Detjen. »Man benötigt immer auch noch Wohnungen, die günstig sind und dann vielleicht nicht den gängigen Klimaschutz­standards genügen — das muss man klar so sagen.«

Die Stadt habe das Problem der Obdachlosigkeit insgesamt zu spät erkannt. Schon Mitte des Jahres hatte Detjen Alarm geschlagen. In den Unterkünften müsse es höhere Standards geben. So fehlten Einzelzimmer, auch der Schutz von Frauen sei nicht ausreichend gegeben, ebenso wenig wie der Schutz vor Diebstahl. »Wir bräuchten hier Standards wie etwa in Altenheimen«, sagt Detjen. »Und die Unterkünfte müssen nah bei den Hotspots liegen und nicht erst durch lange Busfahrten erreichbar sein.«

Aber es gehe auch um Prävention. »Dazu gehört auch das Thema Energie-Armut«, sagt Detjen. »Stromschulden stehen oft am Anfang von Obdachlosigkeit.« Detjen fordert die Aussetzung von Strom- und Gassperren im kommenden Winter und einen kommunalen Hilfsfonds der Stadt. Einen gemeinsamen Antrag dazu haben Linke, SPD und Die Fraktion im November in den Rat eingebracht. Die anderen Fraktionen sahen nicht die Dringlichkeit, der Antrag wurde in den Sozialausschuss verwiesen.

Besorgniserregend ist auch die Situation Jugendlicher. Durch die Corona-Pandemie habe Obdachlosigkeit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen stark zugenommen, berichtet Christoph Hildebrand, der seit 2011 in Köln als Sozialarbeiter für die bundesweite Hilfsorganisation »Off Road Kids« arbeitet. Die Stiftung beschäftigt in Köln sechs Streetworkerinnen und Streetworker, die insgesamt pro Monat knapp 80 Jugendliche und junge Erwachsene beraten und betreuen. »Das ist eine enorme und vor allem traurige Zahl, die stetig nach oben geht«, sagt Hildebrand. Bundesweit hätte sich bei »Off Road Kids« die Zahl der Hilferufe im vergangenen Jahr verdoppelt. »In den Familien, in denen es vielleicht schon vorher schwierig war, kam es im Lockdown vermehrt zu Gewalt und Misshandlungen.« Bereits 2017 hat man die Online-Beratungsstelle sofa­hopper.de ins Leben gerufen. »Im Lockdown war das ein Glücksfall«, so Hildebrand.

Die jungen Menschen, die von staatlichen Hilfesystemen und gesellschaftlicher Teilhabe entkoppelt sind, seien geprägt von zerrütteten Familienverhältnissen mit Gewalt und Misshandlung, sie hätten oft keinen Schulabschluss und keine Perspektive. »Leider beobachten wir auch oft, dass 18-Jährige aus Kostengründen zu früh aus der Jugendhilfe, also aus Kinderheimen, Pflegefamilien oder Jugendwohngruppen, entlassen und verselbstständigt werden«, sagt Hildebrand. »Das ist besonders bitter, wenn dadurch Straßenkarrieren starten.« Junge Volljährige, denen Obdachlosigkeit droht, finden anfangs noch Unterschlupf. Als »Sofahopper« sind sich viele ihrer »verdeckten Obdachlosigkeit« gar nicht bewusst. »Die sichtbare Obdach­losigkeit beginnt, wenn sie keine Couch mehr finden«, so Hildebrand. Durch die zeitliche Verzö­gerung sind sie für Hilfsangebote lange unsichtbar.

»Die Zunahme der Obdachlosigkeit unter Erwach­se­nen ist im Stadtbild überall sichtbar, bei den jungen Erwachsenen dagegen nicht«, so Hildebrand. Das Deutsche Jugendinstitut spricht 2018 von bundesweit 37.000 Wohnungslosen unter 27 Jahren, derzeit gehen Experten von mehr als 40.000 aus. Während Minderjährige in Köln vom Jugendamt in »Inobhutnahme-Einrichtungen« wie Kinderheimen oder Jugendwohngruppen untergebracht werden, werden Volljährigen von der Stadt Notschlaf­stellen angeboten. »Zerbrechliche Jugendliche auf der Schwelle zur Straßenkarriere in Notschlafstellen mit langjährigen, erwachsenen Obdachlosen unterzubringen, ist absolut kontraproduktiv für deren Entwicklung«, sagt Hildebrand. Er und seine Kollegen fordern seit Jahren in Arbeitskreisen eigene Notschlaf­stellen für diese Gruppe, ebenso wie eigene Unterkünfte für Frauen. »Da kam aber lange nichts von städtischer Seite.« 2017 hat der Don-Bosco-Club in Mül­heim auf Eigeninitiative eine Notschlafstelle mit sieben Plätzen für junge Erwachsene gegründet. Mittlerweile wird diese Notschlafstelle auch von der Stadt Köln gefördert.

Aber auch die Obdachlosigkeit im Straßenbild verschärft sich. »Die Zahl der sehr auffälligen und kranken Menschen auf der Straße nimmt zu«, sagt Monika Kleine vom Sozialdienst katholischer Frauen (SKF). Der SKF berät etwa osteuropäische Frauen an der Vorgebirgsstraße, betreibt Notschlafstellen und Wohn­angebote für Frauen und betreut obdachlose Seniorinnen. Monika Kleine ist überzeugt, dass die Zahl von 200 bis 300 Menschen, die ständig auf der Straße leben, nicht zutreffe. Auch Kleine erlebt, dass Obdachlose zunehmend aggressiv auftreten. Sie erklärt das mit einer »Mischung aus Auffälligkeiten, die aus psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen herrührt, gepaart mit Einsamkeit, Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit und dem sichtbaren und fühlbaren Ausschluss aus der Gesellschaft.« Wer mit seinen Sachen in einem Hauseingang lagere, habe nicht mehr das Gefühl, dazuzugehören.

Auch der SKF war beim Treffen des »Bündnis für die Innen­stadt« zugegen. Schon Wochen zuvor hatte Kleine mit dem Sozialdienst katholischer Männer (SKM) gefordert, die Woh­nungslosenpolitik neu auszurichten. Es ­brauche ämterüber­greifende Initiativen. Das Thema Wohnungs­losig­keit solle, so wie 2015 die Flüchtlings­hilfen, »aufgrund seiner Dringlich­keit im Amt der Ober­bürgermeis­terin angesiedelt werden, um die erforderliche gemeinsame Verantwortungs­über­nah­­­me sicherzustellen.« Das Sozialdezernat alleine könne die Woh­nungsnot oder Fragen europäischer Sozialpolitik nicht lösen.

Jetzt, wo die Wintermonate beginnen, hat der Stadtrat beschlossen, eine zusätzliche Unterkunft im Rechtsrhei­ni­schen anzubieten, wo 72 Menschen sich auch tagsüber aufhalten, essen und sich waschen können. Auch zwei zusätzliche Streetworker sollen eingestellt werden.

Burkhard Wennemar vom Bürgerverein Eigelstein ist zuversichtlich, dass sich bei der Stadt nun endlich etwas bewegt. »Ich sehe ein ähnliches Momentum wie 2017, als am Ebertplatz ein junger Mann getötet wurde.« Das sei schrecklich gewesen, aber danach habe sich die Stadt endlich um den Platz gekümmert. Um etwas gegen das Elend der Obdach­losen auszurichten, halten die Bürgervereine die Stadtdirektorin, die in der Verwaltung für Sicherheit und Ordnung zuständig ist, offenbar für geeigneter als den Sozialdezernenten Harald Rau. Dabei hat der Sozialdezernent klare Vorstellungen, wie die Konflikte im öffentlichen Raum gelöst werden könnten. »Obdachlose wollen wir nicht vertreiben«, betont Rau. »Sie wollen ihren Platz haben, am besten einen, wo sich auch andere Gruppen aufhalten wollen.« Das gelinge, wenn es eine »Verantwortlichengemeinschaft« gebe, in der sich unterschiedliche Gruppen zuständig fühlen für den Platz, »und da gehören Obdachlose unbedingt dazu«, so Rau. »Die Plätze erfüllen für Obdachlose den Zweck eines Wohnzimmers. Insgesamt sollten Plätze in der Wahrnehmung aber nie von einer Gruppe dominiert werden. Mein Ansatz ist, dass solche Orte eine Aufenthalts­qualität für unterschiedliche Gruppen haben sollten.«

Derzeit profiliert sich hingegen Stadtdirektorin Andrea Blome. Im Namen der Verwaltung werde sie »alle externen und internen Akteur*innen zu einem Workshop Anfang 2022 einladen«, teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. »Neben dem Thema Obdachlosigkeit werden auch die Themen Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit und Stadtplanung auf der Agenda stehen.« Von Unterkünften, Drogenkonsumräumen, anderen Hilfen oder sozialen Maßnahmen ist keine Rede mehr.

Die Fotos zu diesem Text stammen von Ingrid Bahß und sind dem Buch »Die Letzten hier. Köln im sozialen Lockdown« (hg. von Christina Bacher, Daedalus Verlag, 120 Seiten, 12 €) entnommen. Zuerst sind sie im Kölner Straßen­magazin ­Draussenseiter erschienen.