Die Toten

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 236

»Ohne Coröna/ wäre alles schöna«
Oma Porz

Zunächst die Nachrichten: Mit der vierten Welle schwappt erneut das tückische Virus über den Erdball, und wenn auch die Wissenschaft immer noch nicht ganz genau weiß, was da passiert, so haben wir doch schon sehr viel gelernt über das Virus, aber vor allem über die Menschen.

Mit all den Wellen werden auch Floskeln angeschwemmt, Strandgut der Pandemie. Eine weit verbreitete Unsitte — diese Floskel aus anderen Zeiten passt hier — ist es, in immer neuen Abwandlungen zu sagen, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen »ganz besonders« unter der Seuche leide.

Selbstverständlich leiden sehr viele Menschen. Viele sterben sogar. Es werden immer mehr, und es ist schrecklich. Nun ist es anscheinend aber so, dass auch Menschen darunter leiden, dass sie nicht mehr ohne ein Impfzertifikat ins Konzert oder ohne einen Mund­nasenschutz in den Supermarkt gehen können. Aber wie leidvoll ist es im Vergleich, also wie »ganz besonders« ist das? Und überhaupt: Haben die Pflegerinnen oder die »Kulturschaffenden« oder die Kinder »ganz besonders« gelitten? Oder doch die Paketboten, die Super­marktkassiererinnen, die Friseure? Es ist kniffelig, wenn man es genau nimmt. Einig ist man sich nur darin, dass vergleichsweise wenige Steuerberater und Mundnasenschutz-Hersteller gelitten haben, jedenfalls in beruflicher Hinsicht und insofern privates Ungemach ausgeschlossen werden kann.

Es gehört sich auch, zu sagen, dass Arme mehr leiden als Reiche. Wie könnte es auch anders sein? Aber haben die Jungen mehr gelitten als die Alten? Die Frauen mehr als die Männer? Wirklich? Und dann: Haben die reichen alten Frauen mehr gelitten als die armen jungen Männer? Ich glaube, wer hier eine entschiedene Aussage tätigt, spricht mit einer Absicht, und nicht aus Einsicht.

Grundsätzlich kann man Schmerz schlecht in ein Verhältnis setzen. Der eine schreit, wenn man ihm auf den Fuß tritt. Ein anderer tritt einem auf den Fuß, wenn man schreit. Und manch einer schießt mit gebrochenem Fuß sogar noch ein Tor, wird Fußballweltmeisterin und schreit vor lauter Freude. Man­cher jault aber auch vor Schmerz, wenn er nur ein einziges Wort hört. Es liegt an dem, was das Wort in Gedanken auslöst! Gossenvokabular, tabubesetzte Begriffe, all das. Worte können verletzen. Wie hat es mir damals weh getan, als man in mein Ohr säuselte, »Tschö mit Ö, sweet darling, sei net bös‘, aber ich geh‘ jetzt zum Micki«. Und wer auf der Intensivstation liegt, möchte nicht hören, dass die Nagelstudio-Besitzer ganz besonders unter der Pandemie leiden.

Ich war auf der Beerdigung einer Freundin von Oma Porz. Sie starb an Corona. Wenn man den Tod ernst nimmt und die Vergleiche über das Ausmaß von Leid hört, müsste man schon sagen, dass diese Freundin mehr gelitten hat als jemand, der lebt, aber dem es lästig fällt, einen Mundnasenschutz zu tragen.

Wenn man das Leben verliert, ist das hier auf Erden der denkbar schmerzhafteste Verlust. Sollte man daher nicht sagen, dass die am meisten unter der Pandemie gelitten haben, die gestorben sind? Bloß haben Tote keine Interessenvertretung. Viele Gruppen sollen heute, wie man so sagt, sichtbar  gemacht werden. Aber wie macht man denn Tote sichtbar? Von einem »Totensternchen« zwischen den Buchstaben, zumindest in amt­lichen Verlautbarungen, habe ich noch nicht gehört. Wäre das nicht eine Idee? Immerhin ist die Gruppe der Toten im gesellschaftlichen Diskurs unterrepräsentiert, obwohl sie recht groß ist. Bedenken Sie bitte, wie viele Menschen seit dem Holozän verstorben sind! Gegenüber den Lebenden sind sie in der Mehrheit. Oder sind sie etwa zu Mainstream? Die Pandemie wirft viele Fragen auf. Man kann gar nicht alle beantworten.