Pause von der Pandemie: Swindle, Foto: Lauren Luxenberg

Staffelstab am Mikrofon

Swindle hat mit »The New World« ein antirassistisches Lockdown-Album veröffentlicht

Unsere neue Welt fühlt sich ein wenig altbekannt an. Klar, Masken, Impf-Apps, und Inzidenzwerte sind noch jung, aber trotzdem schon Alltag. Ansonsten macht alles weiter: die Arbeiter, die  Regierungen, die Preise. Im Winter 2021 erinnert kaum noch etwas an das, was im Frühjahr 2020 so neu erschien. »Wir brauchen zwischenmenschliche Verbindungen und im Frühjahr 2020 wurden sie uns plötzlich weggenommen«, sagt Cameron Palmer. »Heute haben wir uns an die Lockdowns gewöhnt, aber damals waren sie ein riesiger kultureller Schock.«

Palmer ist 34 Jahre alt und stammt aus London. Unter dem Pseudonym Swindle brachte er Ende der Nullerjahre mit seinen virtuosen Synthesizerläufen den Funk zurück in die Londoner Bassmusik-Szene und tourte als DJ durch ganz Europa. Aber mittlerweile — zehn Jahre und ein Kind später — ist Swindle ein musician’s musician. Zu ihm gehen MCs und Sängerinnen, wenn sie für ihre Musik eine Produktion brauchen, die die Codes der Clubszene ebenso kennt wie die Schwarze Popgeschichte. »Meine Rolle im Studio ist vergleichbar damit, ein Bild zu rahmen«, sagt er. »Ich trete einen Schritt zurück und schaue, wie der Gesamteindruck wirkt.« Was das bedeutet: Swindle verbringt viel Zeit in seinem Studio.

So auch im Frühjahr 2020, als die britische Regierung die Gefahr durch das Coronavirus zunächst nicht ernst nimmt und das gesamte Land daraufhin für mehr als zwei Monate in den Lockdown gehen muss. »Am Anfang habe ich die Isolation genossen. Ich war zu Hause und konnte in Ruhe Musik machen«, sagt Swindle. »Aber als die Pandemie fortschritt und die Gespräche unangenehmer wurden, war ich nicht mehr fähig, etwas zu erschaffen.« Also nimmt er sein Smartphone und scrollt durch die Kontaktliste auf der Suche nach Menschen, mit denen er sich immer austauscht, wenn er eine Schreibblockade hat: »Vielen von ihnen ging es genau wie mir«, sagt Swindle. Also fassen sie einen Plan: Sobald es möglich wird, wollen sie wieder miteinander Zeit verbringen, quasi eine Pause von der Pandemie machen.

Anfang Juni 2020 ist es schließlich soweit. Die britische Regierung lockert die rigorosen Kontaktbeschränkungen, und nach zwei Wochen in Selbstisolation treffen sich Swindle und seine Freund*in­nen für eine Woche in den Real World Studios in der ländlichen Idylle nahe des viktorianischen Thermalquellen-Städtchens Bath. »Es sollte so eine Art Familienurlaub sein«, erzählt Swindle, »wir sind nicht mit der Absicht ins ­Studio gegangen, ein Album auf­zunehmen.«

Getan haben sie es trotzdem. »The New World« heißt das Ergebnis ihres einwöchigen Studioaufenthalts. Im Titel hallt eine andere Hoffnung aus der Frühzeit der Pandemie nach: die Chance, uns unserer Verletzlichkeit und gegenseitigen Abhängigkeit bewusst zu werden und daraus einen neuen Sinn für Gemeinschaft wachsen zu lassen. »Die besten  Unterhaltungen dieser Woche fanden zu Tisch beim Abendessen statt«, sagt er. Dort saß Swindle mit seiner Wahlverwandtschaft zusammen: dem R&B-Sänger Joey Culpepper,  die Reggae-Sängerin Greentea Peng, die Grime-MCs Ghetts, Kojey Radical und Akala, der zu einer Art elder statesman des Schwarzen Großbritannien geworden ist und vielen anderen mehr. Gemeinsam sprechen sie über die Gegenwart: den Windrush-Skandal, die autoritäre Abschiebepraxis der Tory-Regierung, die Black-Lives-Matter-Proteste, die Frage, was es bedeutet in Großbritannien Schwarz zu sein. »Wenn ich die Musik heute höre, erinnere ich mich in Echtzeit an diese Unterhaltungen«, sagt Swindle. »Joel Culpepper hat etwa erzählt, wie schmerzhaft es war, dass er keine Gemeinsamkeiten mit seinen Schulfreunden mehr findet, wenn es um Themen wie Rassismus geht.« Diese Erfahrungen verarbeiten Swindle und Culpepper gemeinsam mit dem britisch-irischen Sänger Maverick Sabre im Soulstück »No Black, no Irish«. Bis Mitte der 60er Jahre war dieser Satz Alltag in Wohnungsanzeigen, dann wurde er per Gesetz verboten. Culpepper und Maverick Sabre erinnern daran, dass Rassismus im UK Ausdruck eines Verhältnis ist, dass die Herrschaft einer dominanten Gruppe — weiße,­­ ­reiche Protestant*innen — sichern soll.

Aber »The New World« ist auch ein Ausdruck einer Generation von britischen Musiker*innen. Sie sind Mitte 30, gleichermaßen aufgewachsen mit Piratensendern, MC-Battles und der Soul-, Reggae- und Jazz-Plattensammlung ihrer Eltern. Diese Spuren finden sich auf »The New World«: Funk-Stücke, deren Verspieltheit an die psychedelischen 70er Jahre erinnern, Neo-Soul mit Empowerment-Botschaften und eine Ode an die Schwarzen Kirchengemeinden, in denen drei MCs den Style ihren kindlichen Sonntagsanzug zum Zeichen von Stärke machen. Swindle jongliert mit den Genres, flechtet trockene Basslines ein und modulierte Synthesizer und ein Studio­orchester.

»The New World« ist ein Kompendium Schwarzer Popgeschichte, das in der Übergabe des Dirigentenstabs mündet. Über einem klassischen Grime-Beat geben »Blow ya trumpet« drei verschiedene Generationen an britischen MCs das Mikrofon untereinander weiter. »Es ist wie die Szene in »Lion King«, in der Mustafa zu Simba sagt, dass jeder Stern ein toter König ist.« Vielleicht ist das nicht die schlechteste Art, eine neue Welt auszurufen: daran zu erinnern, dass dies schon andere versucht haben.

Tonträger: Swindle, »The New World« (Warner)