So schreibt man Musikgeschichte: Die Fische, Foto: privat

Kontext: Dada

Die Ursprünge des Synth-Pop aus dem Untergrund — von Tijuana bis West-Berlin

Die 80er waren ein großartiges Jahrzehnt der Popmusik. Künstler wie Prince, Madonna, Cher und zahlreiche schrille Acts prägten diese Epoche. Technische Innovationen setzten sich durch, der Synthesizer-Gebrauch gehörte zum Mainstream. Depeche Mode brachten den elektronischen Sound in die Charts, während abseits der schicken Studios Do-It-Yourself-Musiker die neuen Möglichkeiten ausprobieren wollten.

Nur, wer in diesen Jahren eine eigene Platte herausbringen wollte, der brauchte dafür in der Regel eine Stange Geld. Presswerk, Studio, Produktion — alles war ziemlich teuer. Das konnte eigentlich nur ein Major-Label wie Virgin oder EMI bezahlen. Es gab aber auch eine Gruppe junger Querdenker, musikbesessener Weltverbesserer, die lieber ihr eigenes Ding machten. Diese Jugendkultur setzte sich in Deutschland aus Hamburger und West-Berliner Hausbesetzern zusammen, hatte Bezüge zur Kunst­szene in Düsseldorf und Köln und hörte besonders gern importierte 45er-Vinyls. Auf gebrauchten Synthe­sizern und Gitarren aus dem Pfandhaus fingen sie an, ihre eigenen Lieder zu schreiben und diese daheim auf Kassetten aufzunehmen.

Der DIY-Geist der Punk-Bewegung hatte den Weg frei gemacht, und nun war eine neue Generation heiß darauf, diesen weiterzudenken.  Die Compilation »Eins und Zwei und Drei und Vier — Deutsche Experimentelle Pop-Musik 1980-86« liefert zwanzig Beispiele wie das damals klang. Beeinflusst von Punk, Funk, Jazz und Reggae bastelte diese Gruppe an unkonventionellen Instrumenten. Es war mehr eine Herangehensweise ans Musikmachen, was sie einte, als ein gemeinsamer Stil: Hauptsache man war anders als der Mainstream. Das hieß hierzulande, vor allem auf Deutsch singen. Denn selbst die Pioniere des Krautrocks, unvergleichlich bahnbrechende Musik aus den 70ern, hatten noch auf Englisch gesungen, sich also dem Kanon des Rock&Roll aus Übersee zugeordnet. Die auf »Eins und Zwei und Drei und Vier« vertretenen Texte sind dagegen oft albern, manchmal ernsthaft und oft beides gleichzeitig.

Ein ähnliches Phänomen spielte sich zeitgleich auf der an­deren Seite des Globus ab. Von der schweren Wirtschaftskrise in Lateinamerika geschüttelt, fand sich in den Kneipen und Kaschemmen von Mexico City sowie der legendären Grenzstadt Tijuana eine junge Generation zusammen, deren Musik fast nur im Live-Kontext existierte.  Erst jetzt erscheinen beim Reissue-Label Dark Entries mit der Compilation »Back up: Mexican Tecno Pop 1980-89« einige ihrer Vertreter zum ersten Mal auf Vinyl.

Auch hier sind es wieder die schlichten  Synthesizer und Drummachines, die den Pop demokratisierten (obgleich die Maschinen für Künstler in Mexico eigentlich immer noch viel zu teuer waren). »Tecno Pop« nannten sie das dort, was so soviel meinte wie hierzulande New Wave oder Synth Pop. Mit diesem Ansatz galt man in Mexiko schon gleich als ziemlich radikal, zu einer Zeit, als noch völlige Obsession mit traditioneller Folkmusik vorherrschte. Zumindest die Texte blieben auf Spanisch.

Viele der auf der Compilation präsentierten Bands stammen entweder aus Mexico City oder Tijuana. So zum Beispiel das Trio Syntoma, die 1983 mit ihrem ersten Album »No Me Puedo Controlar« den Grundstein für elektronisch produzierten Cumbia legten und ihren von Jazz sowie Progressive Rock beeinflussten Stil »electropicalurbano« nannten. In ihren Texten geht es um Fiesta und Science-Fiction. Das performative Element war damals extrem wichtig. Denn innerhalb einer Szene, deren seltene Tonaufnahmen ausschließlich im Home-Recording entstanden, konnte die Musik ja nur live und also auf Konzerten erlebt werden. Das Duo El Escuadrón del Ritmo etwa trat stets in dunklen Overalls und orangenen Skimasken auf, ein Statement gegen staatliche Oppression.

Ihre produktionstechnische Unausgefeiltheit hört man den Beiträgen auf beiden Compilations an. Mal rauscht die Aufnahme, hier knistert das Mikrofon, und überhaupt hat alles nicht so diese präzise Durchschlagskraft, die sich Depeche Mode schon damals leisten konnten. Dafür überzeugen die LoFi-Aufnahmen der Mexikaner mit ihrem spürbaren Freiheitsdrang, dem unerschrockenen Pioniergeist und surrealen Songs über »Cacucarachas«. Und auch die deutschen Bands wie Carambolage, Die Fische oder Die Radierer, unterhalten mit dadaistischem Humor und simplen Titeln wie »Angriff aufs Schlaraffenland« oder »Mein Walkman ist kaputt«. Stilistisch bietet »Eins und Zwei und Drei und Vier« mehr Vielfalt und vor allem wirkliche Experimente der Popmusik. Dafür lässt sich mit dem Katalog von Dark Entries’ »Back Up« auch heute noch problemlos eine to­­bende Fiesta abfeiern.

Tonträger:
»Eins Und Zwei Und Drei Und Vier (Deutsche Experimentelle Pop-Musik 1980-86)« (Bureau B/Indigo)
»Back Up: Mexican Tecno Pop 1980–1989« (Dark Entries)