Alles nur kein Mainstream: Gábor Altorjay

Im Zentrum der Dinge, am kritischen Rand des Feldes

Rapid Eye Movies hat die »Trilogie der Flüchte« des Künstlers und Filmemachers Gábor Altorjay restauriert

In den 80er Jahren war Gábor Altorjay eine bekannte filmkulturelle Gestalt — im Öffentlich-Rechtlichen genauso zu Hause wie auf dem internationalen Festival-Parkett. Seine ersten beiden Langfilme »Tscherwonez« (1982, Co-Regie: Randi Marie Hoffmann und Márton János) und »Pankow ’95« (1983) gehören zum Zeitgeist der Neue Deutsche Welle. Als die allmählich verebbte, zog sich auch Altorjay zurück — bis zum nächsten abendfüllenden Werk »Punte Grande«. Dafür gab es in dessen Erscheinungsjahr 1996 noch etwas Kurzes mit dem irren Titel »Ein Tag aus dem Leben der Tochter von Mick Jagger und Michel Piccoli«, der von dem Multi-NDW-Band-Gitarristen und Jungen Wilden Tom Dokoupil fotografiert wurde.

Mit Altorjay bewegt man sich durch ein Kultur-Universum, in dem Grenzen aller Art nur dazu dienten, überschritten zu werden — seien es Staats-, Geschmacks- oder Klassengrenzen. Aus heutiger Perspektive mag es auf Dauerironisierte kurios wirken, Dieter Thomas Heck und Diedrich Diederichsen gemeinsam in »Pankow ’95« zu sehen — tatsächlich ist das die Wirklichkeit der bundesdeutschen 80er Jahre zwischen Avantgarde für alle und einem pur pragmatischen Historischen Kompromiss, der ab 1989 vom Tisch war. Altorjay 1997 in der taz: »Seit ’89 gibt es keine Politik mehr, sondern eine Art Sado-Masochismus. Seit ’89 ist es so, daß das Volk kniet, die Herrscher die Peitsche knallen, und sich die Unterdrückten für jeden Schlag bedanken.« Man sieht: Altorjay war nie um markige Sätze verlegen, aber auch, dass er weiß, worum es in jedem Augenblick geht. Nicht umsonst dreht sich sein Post-’89-Schaffen ähnlich obsessiv ums Private wie zuvor um das Diktatorische aller Staatssysteme.

Das Kölner Label »Rapid Eye Movies« hat durch die digitale Restauration von »Tscherwonez«, »Pankow ’95« und »Punte Grande« Altorjays Kernwerk nun wieder allseitig zugänglich gemacht, und wird »Pankow ’95« im Dezember erneut in die Kinos bringen. Im Filmhaus gibt es diese »Trilogie der Flüchte« Ende Novem­ber zu sehen, Tom Dokoupil wird mit Freund:in­nen dazu aufspielen.

Hatte Gábor Altorjay je eine Karriere als Filmemacher? Oder macht er einfach manchmal Filme? Altorjay ist nämlich erst in zweiter Linie Regisseur, angefangen hat der gebürtige Ungar, Jahrgang 1946, als bildender Künstler mit starken Nach/Vor-Fluxus-Anbindungen. 1967 reiste er in die BRD aus, wo er in Stuttgart Halt machte, dann in Köln, Frankfurt und Hamburg, um dann doch in Berlin die Zelte aufzuschlagen. Altorjays Geschichte ist für die Ära typisch, auch wenn sie heutiger ziemlich irre klingt: Er kam unter den Schwaben an, telefonierte mit Wolf Vostell, der ihn mit Bazon Brock bekannt machte und für eine Behandlung durch Hanns Sohm, den angeblich eher mittelmäßigen Zahnarzt, aber ganz sicher erstklassigen Gegenkulturkunstwerke-Sammle, sorgte. Hier in der Gegend wohnte er im gleichen Haus, wo Can ihr Studio hatten. Die Welt war damals klein, aber die paar Leute, die sich etwas zu sagen hatten, kannten einander oder wurden einander schnell bekannt gemacht. Das Szene-Unwesen war auch noch nicht ganz so arg, dafür waren die Interessen breiter und die kulturellen Hierarchien flacher. Allerdings schmiss Altorjay in den frühen 70 Jahren die Kunstbrocken erst einmal hin, weil seines Erachtens die Welt das gerade nicht brauchte oder es der Welt nichts brachte. Wenn er in den frühen 80 Jahren schließlich beim Film landete, und das mit stärkster NDW-Anbindung, dann folgte er weiter seinem Instinkt als Zeitgeist-Surfer: irgendwie immer im Zentrum der Dinge, aber am kritischen Rand des Feldes. Zudem zeigt sich dadurch, wie stark sein Schaffen letztlich ein soziales ist, da Altorjays Genie das Verknüpfen und Kanalisieren von Ideen, Energien, Könnerschaften und Interessen ist.

So gesehen ist es nicht überraschend, dass »Pankow ’95« sein legendärstes Werk ist — der launige Science-Fiction-Titel besticht allein mit seiner Berlin-(West)-seligen Ost-Ausrichtung, aber auch mit dem darin verborgenen Sprachspiel um das Wort Punk. Und nicht vergessen: Nur etwas mehr als ein halbes Jahr vor der Erstaufführung des Films sang Udo Lindberg: »Ich weiß genau/ Ich habe furchtbar viele Freunde/ In der DDR/ Und stündlich werden es mehr/ Och, Erich, ey, bist Du denn wirklich so ein sturer Schrat/ Warum lässt Du mich nicht singen/ Im Arbeiter- und Bauernstaat?« Ebenfalls ganz im Augenblick verankert, allerdings mit Retro-Tendenz, ist die Nervenheilanstalt, in der sich Udo Kier unter der Aufsicht von Dieter Thomas Heck (ohne Brille) wegen staatsfeindlicher Musiktheorien befindet. Wie schon Tom Dokoupil als sowjetischer Seemann in »Tscherwonez« will auch Kier fliehen, was in beiden Werken ob der allseitigen Dauerbeobachtung im Alltag allerdings nicht gerade einfach ist...

»Pankow ’95« ist im Vergleich mit »Tscherwonez« eher Genre-Kino. Im Zweifelsfall wurde sich anscheinend eher für die bestaussehende Lösung entschieden. »Tscherwonez« hat einen größeren dokumentarischen Überschuss, »Pankow ’95« einen tieferen Augenblicksatem. In ersterem sieht man mehr von den frühen 80 Jahren,  in letzterem spürt man sie mehr. Beunruhigend, dass die Filme jeweils auf einer gewissen Ebene nicht gealtert sind. Heute sieht niemand mehr so top aus wie damals, aber die Fragen zum Überwachungsstaat zum Beispiel sind aktueller denn

Sa, 27.11 + So, 28.11, Werkschau
Gábor Altorjay, Filmhaus Kino
»Pankow ’95«, D 1983, D: Udo Kier, ­Christine Kaufmann, Dieter Thomas Heck, 83 Min., Start: 27.11.