Der Gefahr ins Auge sehend: Noomi Rapace als Maria

»Lamb«

In Valdimar Jóhanns­sons Horror-Märchen geraten Traum und Wirk­lich­keit durch­ein­ander

Okay, der Lovetalk dieses Paars ist ausbaufähig. Sie: »Der Traktor macht so komische Geräusche«. Er: »Ich werde ihn mir gleich ansehen«. María (gespielt von »Mill­ennium«-Star Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) sind ein eingespieltes Team, sie züchten auf einem abgelegenen Gehöft im Norden Islands Schafe und bauen Kartoffeln an. Viel geredet wird dabei nicht. Geräusche und Gesten scheinen da draußen wichtiger zu sein als Worte, sie geben Auskunft über den wahren Zustand der Dinge.

Etwas Gewalttätiges lauert in Valdimar Jóhannssons Langfilmdebüt »Lamb« zwischen den statischen Landschaftsbildern und kühlen Interieurs, es geistert durch die langsamen Schwenks und Zooms, nistet sich als »komisches Geräusch« in der Tonebene ein und wirft seine Schatten in scheinbar harmlosen Szenen voraus. Als im Stall die Lämmchen zur Welt kommen, werden sofort deren Öhrchen markiert: Blut rinnt über weißen Flaum, das Menschenpaar zählt seinen Besitz. So weit, so ­normal. Bis ein Nachzügler-Lamm geboren wird, das anders aussieht als alle anderen.

Doch wir sehen nur die überraschten Gesichter des Paars: Misstrauisch beäugt Ingvar seine Frau María, die aber sieht ihn glücklich an und trägt das Neugeborene ins Haus. Wer hat hier was gezeugt? War an einem Winterabend nicht ein seltsames Schnauben im Stall zu hören, das alle Schafe erstarren ließ? Heidnische und christliche Bildwelt, Traum und Realität geraten durcheinander, ohne dass klar würde, wo das eine aufhört und das andere beginnt.

Fast 40 Minuten dauert es, bis sich das Zentrum dieses Mystery-Horror-Ehedramas offenbart. Bis dahin umsorgt das Paar das Kleine wie sein eigenes Kind, draußen blökt derweil das Mutterschaf nach seinem Jungen. Die Selbstgewissheit, mit der María dieses Wesen als ihre Tochter betrachtet, könnte bis dahin auch einfach nur eine etwas frei­drehende Art sein, mit einem zuvor erlebten traumatischen Verlust umzugehen.

Aber was in diesem von Béla Tarr mitproduzierten, für seine Independent-Horrorfilme gerühmten Studio A24 (»Midsommar«, »The Witch«) realisierten Film offenbar werden will, ist mehr als herkömmliche Paar- und Reproduktionspsychologie. Als störender Dritter taucht Ingvars Bruder Pétur auf (Björn Hlynur Haraldsson), ganz in Leder gekleidet und in jeder Hinsicht das Gegenteil der Ackerbauern und Viehzüchter: ein Ausgestoßener, der zwar Gedichte auswendig kennt, aber nichts hat; schwarzes Schaf der Familie, verkrachter Popstar und einem nomadischen Lebensstil (und noch dazu María) zugewandt. Péturs Physiognomie erinnert sachte an heidnische Gottheiten in Bocksgestalt, doch eine Verwandtschaft vermag er in der Nichte zunächst nicht zu erkennen. »Was zum Teufel habt ihr da?« fragt er. »Glück«, antwortet Ingvar lächelnd. Es ist das Glück der Sesshaften, der Segen des Privaten. In komischer Umkehr des Befremdetseins erklären die Eltern die Scheu der Kleinen vor Pétur damit, dass sie »an Fremde nicht gewöhnt« sei. »Lamb« ist auch lustig, und die vom Lyriker Sjón mitverfassten Dialoge haben entscheidenden Anteil daran. Doch trotz eines heiteren, fast dionysischen Zwischenspiels: Fürs Vater-Mutter-Kind-Idyll müssen andere ausgeschlossen werden.

Es aufrecht zu erhalten, kostet etwas, manchmal Leben. Der in Cannes in der Reihe Un Certain Regard mit dem »Preis für Originalität« ausgezeichnete Film verrät die Frage, wer hier das wahre Ungeheuer ist, nicht an zivilisationskritische Thesen. Es sind die unterkühlt machtvollen Bilder Eli Arenssons und das körperlich ­klare Spiel der Darsteller:innen, die die Geschichte bis zum Schluss unter Spannung setzen. Der Innen- und Außenwelt unheilvoll verschmelzende Score von Þórarinn Guðnason treibt die Dramatik der Bilder an wenigen, aber effektvollen Stellen auch akustisch auf die Spitze.

ISL/ SWE/ POL 2021, R: Valdimar Jóhannsson
D: Noomi Rapace, Hilmir Snær ­Guðnason, Ingvar Sigurdsson
106 Min., Start: 6.1.