Blick auf die Gegenwart: »Kabul Kinderheim«

Kein Film ohne Risiko

Beim Seminar »Afghan Films — Women’s Voices« gaben weibliche afghanische Filmschaffende in Köln Einblick in ihre Arbeit

Im November 2021 lief »Kabul Kinderheim« in den deutschen Kinos. Die in Teheran geborene afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat erzählt darin den Übergang von sowjetischen Herrschaft Ende der 80er Jahre bis zur Machübernahme der islamistischen Mudjaheddin anhand der Geschichte eines Waisenhauses — anekdotisch, künstlerisch, in einer klaren Bildsprache, und mit einigen liebevollen Reminiszenzen an Truffauts »Antoine-Doinel«-Zyklus. Der Straßenjunge Qodrat hält sich über Wasser, indem er günstig erworbene Kinotickets für Bollywood-Filme gewinnbringend verkauft und nebenher von eigenen Heldentaten in der Actionwelt träumt.

Afghanische Filmemacherinnen haben in den letzten Jahren massiv gegen fehlende Sichtbarkeit und falsche Repräsentationen angekämpft, fast jedes gesellschaftliche Tabuthema aufgegriffen und sie sind auf internationalen Filmfestival präsent: In Roya Sadats »Letter to the President« ist die Protagonistin wegen ihres Einsatzes für eine missbrauchte Frau selbst von der Todesstrafe bedroht. Sahraa Karimi, ebenfalls in Teheran geboren, porträtiert in »Hava, Meryem, Aysha« drei Frauen aus verschiedenen sozialen Milieus, die alle unter dem misogynen Gesellschaftssystem leiden.  Schier den Atem stocken lässt einen der Dokumentarfilm »A Thousand Girls like me«: Sahra Mani folgt Khatereh, die jahrelang von ihrem Vater vergewaltigt wurde, und zu Filmbeginn zögert, ein weiteres Kind von ihm zur Welt zu bringen. Inzest an Minderjährigen, sexuelle Gewalt an den Wehrlosesten ereignet sich weltweit — der empörende strafrechtliche und gesellschaftliche Umgang ist allerdings regionaltypisch. Nachdem sie sich hilfesuchend an zahlreiche Geistliche gewandt hatte, die ihr zu Gebet und Einkehr rieten, muss Khatereh vor Gericht erklären, warum sie erst so spät Anklage erhebt. Die eigene Mutter bezichtigt die 23jährige, eine »schmutzige Seele« zu haben. Und die Onkel sehen durch die öffentliche Benennung des Missbrauchs die Familienehre beschmutzt und wollen Khatereh zum Schweigen bringen. Wer solche Themen anpackt, setzt sich enormen Risiken aus.

All diese neuen Perspektiven, die einem zerrissenen Land helfen könnten, zu sich zu kommen, sind seit dem 15. August 2021, dem Tag der erneuten Machtübernahme der Taliban, Makulatur. Ein aktuelles Stimmungsbild zeigte Anfang Dezember das Seminar »Afghanistan — Women’s Voices«. Das Netzwerk LaDoc, das Frauenfilmfestival Dortmund Köln und die KHM hatten zu Filmen und Gesprächen eingeladen — mit Rokhsareh Ghaemmaghami, Sahra Mani und Sahraa Karimi. Letztere hatte 2019 als erste Frau die Leitung von Afghan Film angetreten. 1968 gegründet, erlebte die staatliche Produktionsfirma mancherlei Höhen, Tiefen und Krisen. Karimi war nach eigener Aussage bemüht, aus einem durch Missmanagement heruntergewirtschafteten Laden eine gut vernetzte Institution zu machen — ebendies setzte sie schlimmsten Anfeindungen, persönlichen Beleidigungen und Bedrohungen aus. Von Seiten der männlichen Kollegen — auch der selbsterklärten modernen und intellektuellen — habe sie keinerlei Unterstützung erfahren. Aber auch die Filmemacherinnen hat die Schlammschlacht voneinander entfernt.

Dabei hat es sowieso schon schwer, wer in Afghanistan »Arthouse« macht. Es gibt nicht das eingespielte System aus Starttermin, Verleih und Presse. Filme wie die hier genannten laufen als Einzelveranstaltungen in Clubs oder Universitäten, oder die Filmemacherinnen bezahlen selber die wenigen verbliebenen Kinos, damit diese ihre kritischen Filme ins Programm nehmen. Das breite Kinopublikum ist vor allem an Zerstreuung aus Bollywood interessiert.

Damit hängt auch die Frage zusammen, warum die meisten der international sichtbaren Filmemacherinnen auf Dari drehen, einer dem im Iran gesprochenen Farsi nahestehenden Landesprache. Viele der Regisseurinnen entstammen der bildungsnahen, kulturinteressierten Mittelschicht, haben im benachbarten »Filmland« Iran — sicherer Fluchtpunkt für Millionen Afghan*innen — oder auch im westlichen Ausland gelebt und studiert. Das Paschto hingegen ist vor allem im sunnitischen Bevölkerungsteil verbreitet, der als bildungsfern, ländlich und konservativ gilt und dem auch die Taliban entstammen. Es ist nur eines der zahllosen politischen Versäumnisse in dem ethnisch und kulturell reichen Land war es, kaum mit staatlichen oder internationalen Bildungsprogrammen der sozialen, religiös aufgeladenen Spaltung entgegengewirkt zu haben, deren Hauptleidtragende die Frauen sind.

Die Teilnehmerinnen im Filmhauskino nahmen aber auch die westliche Darstellung Afghanistans in die Kritik.  Da ausschließlich »Problemfilme« gefördert und nachgefragt seien — so wichtig sie auch sein mögen — verfestige sich das undifferenzierte Bild eines rückständigen und fremden Landes. Natürlich gebe es auch Frauen, die selbstbestimmt und modern leben, Auto fahren, Liebschaften haben, arbeiten und feiern. Doch für solche Alltagsgeschichten finden sich keine europäischen Gelder, auf die das Kino mangels eigener Förderstrukturen angewiesen ist.

Die afghanischen Filmemacherinnen waren unfassbar produktiv. Sie haben sich international vernetzt, eigene Studios gegründet, neben Spielfilmen unzählige Dokumentarfilme zu Land und Leuten geliefert — und das gegen enorme Widerstände. Nun findet afghanisches Kino bis auf weiteres vor allem im Exil statt. Es hat eine solche Situation schon einmal überstanden, und für die Filmemacherinnen ist es Ehren- und Überlebenssache, weiterzumachen — mit den je eigenen Mitteln. Sahraa Karimis nächster Spielfilm spielt in Afghanistan, gedreht wird in Kurdistan, was die Filmemacherin so kommentiert: »Dort sieht es genauso aus.«