Wer darf sprechen?

Eine Nacht in Helsinki von Mika Kaurismäkis

Mika Kaurismäkis Lockdown-Kammerspiel über drei redselige Männer in einer Kneipe

Ausgangssperre: Mehr Tauben als Menschen in den leeren Straßen. Geschlossene Geschäfte und Kneipen. Einkäufe werden mit Handschuhen vorsichtig vor Wohnungstüren abgestellt. Eine der leeren Kneipen dient unfreiwillig als Anlaufpunkt für verschiedene Personen. Der Film »Eine Nacht in Helsinki« wird dabei von den in der Pandemie allgegenwärtigen Fragen begleitet: Wie zwischen Regeln und Notfällen abwägen? Welche Ausnahmen sind vertretbar und erlaubt?

Kneipenwirt Heikki gewährt zwei Männern Zutritt, die sich im weiteren Verlauf der Nacht kennenlernen: Krankenpfleger Risto und Juhani, ein Unbekannter, der auf einen Anruf seiner Tochter wartet. Ein Unbekannter, der »zu viel redet«, wie Heikki und Risto finden. Bei Rotwein und Kerzenlicht reden dann alle drei Männer (zu) viel. Ohne Hintergrundgeräusche, ohne Gespräche am Nebentisch oder Bestellungen anderer Gäste. Wenn sie Musik hören wollen, müssen sie selbst die Jukebox bedienen. Regisseur Mika Kaurismäki inszeniert die Entwicklung eines Gesprächs zwischen drei Männern, die sich mutmaßlich schon lang nicht mehr in Gesellschaft, lang nicht mehr außer Haus, aufgehalten haben. Auf der Suche nach einem Gesprächsrhythmus werden mehr und mehr Rotweinflaschen geöffnet und geleert. Worüber spricht man mit Menschen, die man nicht kennt, mitten in der Pandemie, mit so viel Zeit und Ruhe, wie sie eine leere Kneipe bietet? Was gibt man neuen Freunden im Rausch preis? Das teilweise schwere, selbstmitleidige Gespräch zwischen den Männern kreist um sich selbst und wirft Fragen nach Privilegien auf. Juhani erzählt, dass er verliebt ist, in eine Frau, die von ihrem Exfreund belästigt und misshandelt wird. Was der Film zeigt: eine gemütliche Kneipe, Heikki und Risto, die Juhani »heldenhaftes« Verhalten attestieren, das ­Entkorken einer weiteren Flasche Rotwein. Was der Film nicht zeigt: die Frau. Ist sie in Gesellschaft, bekommt sie Unterstützung, könnte sie es sich leisten, eine Nacht in einer Kneipe zu verbringen, wie kümmert sie sich in diesem Zustand um ihre Tochter? Das vor allem in der Pandemie so präsente Problem von ungleich verteilter Sichtbarkeit spiegelt sich auch im Film wider. Das Gefühl einer Erzählung aus vergleichsweiser privilegierter Perspektive drängt sich auf. Und macht nachdenklich. Welchen Geschichten schenken wir Aufmerksamkeit? So tröstlich ein Film über die aktuelle Lage, über Einsamkeit, Gespräche und Unterstützung ist, so wirft er zugleich die Frage auf: Wessen Probleme und Bedürfnisse werden nicht thematisiert?

(Gracious Night) FIN 2020, ­ R: Mika Kaurismäki, D: Timo Torikka, Kari Heiskanen, Pertti Sveholm, 90 Min.