Tauchte immer seltener aus seinem Studio auf: Frank Zappa (1940–1993)

Die verschwundenen Musiker

Bald ist wohl wieder Lockdown und die Konzertbühnen verwaisen erneut. Aber schon in frühere Zeiten verschwanden Musiker von den Bühnen. Ein Rückblick in trüber Zeit

1988 hatte ich noch keinen besonders definierten Musikgeschmack und auch keinen besten Freund. Zwei Jahre später hatte ich meinen besten Freund, wusste, welche Musik ich hören wollte (seine) — und hatte direkt schon meinen ersten Neid-Komplex. Denn Simon, der ein bisschen weiter war als ich, hatte 1988 Frank Zappa gesehen — auf dessen letzter Europa-Tour. Zappa selbst hatte das so verkündet, »You can’t do that on stage anymore« lautete sein Programm. Live-Musik mit ihm als Bandleader, Sänger und Gitarristen werde es nur noch in der Retrospektive geben, auf, wie wir heute wissen: unzähligen Tonträgern, die seine Tourneen seit 1967 dokumentieren. Da hatte ich nun gerade durch meinen Freund diesen wunderbar exzentrischen, verwirrend sarkastischen Musiker kennengelernt — der zugleich unendlich weit weg war. Bloß zwei Jahre trennten mich von einem Musikerlebnis, das in den Schilderungen Simons und meiner Phantasie ein einmaliges, umwerfendes, erfüllendes, alle blöden Besserwisser distanzierendes Erlebnis gewesen muss! Ich fand es wirklich gemein.

Kann ich meinen Frust mit dem vergleichen, den viele Fans, junge Leute, überhaupt Musikliebhaber seit dem März 2020 aushalten müssen. Na, besser nicht. Mir meine damalige Situation zu vergegenwärtigen, hilft mir trotzdem zu verstehen, was viele Leute so sehr vermissen. Aber die ketzerische Frage sei erlaubt: Wer vermisst eigentlich was? Als Zappa 1988 seinen Rückzug von den Konzertbühnen verkündete, mit nicht mal 48 Jahren (allerdings sah er schon deutlich gealtert aus), war das seine souveräne Entscheidung. Das legt eine erste Spur in eine ganz andere Richtung: Was wenn der Rückzug aus der Öffentlichkeit — einer bestimmten Öffentlichkeit, der des Kulturbetriebs und des Live-Rummels — ein naheliegender und von vielen Musikern bewusst gewählter Modus ihrer Kreativität ist?

Heute wissen wir, dass Zappa zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits unheilbar an Krebs erkrankt war (was er öffentlich erst 1991 verkündete), dass er auch nach 1988 noch Konzerte gab — etwa in der Tschechoslowakei , wo er ein Superstar war und vom Dichter-Präsidenten Vaclav Havel persönlich empfangen wurde — und er weiterhin vorhatte aufzutreten, vor allem als Dirigent seiner Kammer- und Orchestermusik. Aber die Tendenz zum Rückzug war dominanter — und sie hat einen Namen: Utility Muffin Research Kitchen. So hieß das Studio auf seinem Anwesen in L.A., das er 1979 eröffnete und in dem er sich vollständig abschottete. Seine jüngste Tochter soll ihm Postkarten und Polaroids von sich durch den Türschlitz geschoben haben, damit er, was ihre Entwicklung anging, halbwegs auf Stand bliebe. Zappa hatte seine Musik penibel dokumentiert, jedes Konzert wurde professionell mitgeschnitten und nach verschiedenen Parametern erfasst (Set-Lists, Länge der Gitarrensoli, Qualität der Ansagen etc.). Noch viel manischer schnitt er die Musik zusammen, tauschte Instrumentalspuren, verschob Soli, spielte im Studio Overdubs ein. Zappa ließ seinen Kontrollwahn überschlagen in einen Kreativitätsrausch, der darin gipfelte, auf einem Synthesizer mit Sampler-Modul, dem Synclavier, alles selber einzuspielen und also komplett auf Mitmusiker zu verzichten. Denn er hatte angefangen, seinen Bands die Stücke, die er im Studio aus den Konzertmitschnitten gebastelt hatte, vorzulegen, damit die sie für die nächste Tour einstudieren konnten. Damit hatte er die Grenzen musikalischer Leistungsfähigkeit erreicht: viele Stücke wiesen für Musiker aus Fleisch und Blut unspielbare Passagen auf: »You can’t do that on stage ­anymore«.

1982 hatte sich Zappa das Synclavier zugelegt — und 1982 war auch das Todesjahr Glenn Goulds. Dessen Verschwinden von den Konzertbühnen ist das ungleich einschneidendere Ereignis und fehlt bis heute in keiner noch so kurzen Chronik der Musik des 20. Jahrhunderts. Gould, der genialische Bach-Interpret, der Herausforderer Beethovens, der Mozart-Verächter und Advokat Schönbergs zog sich 1964, mit 32 Jahren, von den Bühnen dieser Welt zurück. Auch hier spielt Kontrollwahn eine Rolle: als Befürchtung, nicht jeden Abend die Höchstleistungen am Klavier zu vollbringen, die er von sich selbst erwartete, dann als Widerwille gegen die Publikumserwartungen, die Abhängigkeit von Orchester und Dirigenten. Gould vergräbt sich in Toronto im Studio, in das er, der tagsüber in Hotels haust, sich nachts fahren lässt, um stundenlang an den Einspielungen seiner Beethoven- und Mozart-Sonaten, die er ästhetisch sabotiert, zu schneiden. Er hat immer Tonmeister an seiner Seite, beherrscht aber die Studiotechniken bald auch selbst. Der Pianist, der zu den Ausnahmekönnern an seinem Instrument zählt, verlässt den Rahmen eben dieses Instrumentes, um es den diesen Techniken zu unter­werfen: Schnitte, Overdubs, unterschiedliche Mikrofonierung. Sein Ziel ist es, ein lineares, zentristisches (auf ein melodisches Zentrum orientiertes), romantisches, Virtuosität überhöhendes Musikhören zu hintertreiben, deshalb die Mozart- und Beethoven-Dekonstruktionen und die mit mathema­tischer Kälte gespielten Bach-­Stücke.

Gould wäre heute ohne Zweifel ein Social-Media-Star, die Kanäle, die ihm damals zur Verfügung standen, bediente er jedenfalls virtuos. Er trat im kanadischen Fernsehen auf, selbstverständlich nicht vor Publikum, und erklärte in kurzen, mal skurrilen, mal sarkastischen Beiträgen die Entwicklung der Musik hin zur Moderne, in der Bach erst wirklich verstanden werden könnte. Mal verkleidete er sich als vertrottelter Dirigent, mal als bierernster deutscher Musikwissenschaftler oder als schnöseliger Musikjournalist. Dass er Filmchen auf Instagram gestellt und böse Tweets abgesetzt hätte, kann man sich gut vorstellen. Er war omnipräsent und gleichzeitig für keinen greifbar, eigentlich unauffindbar, auch das passt zu dieser Pseudo-Intimität, die die »sozialen Netzwerke« generieren. Gould lebte nicht gesund und half sich durch seine menschenfernen Tage mit allerlei Pillen, nur wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag, am 4. Oktober 1982, ereilte ihn der Schlag.

Dass das Studio ein Instrument ist und die Rolle der Virtuosen von den Musikern im Studio auf die Leute an den Reglern — den Produzenten und Tontechnikern — übergegangen ist, ist ein Standardsatz der Popkultur. Er bezieht sich nicht auf den Solitär Gould, sondern auf die Aufnahme- und vor allem Mix-Künste jamaikanischer Produzenten. Die Rede ist von Dub, einer vergleichsweise kurzlebigen Spielart des Reggae, seine goldenen Jahre liegen zwischen 1974 und 1981. Sie wird von Hipstern im »globalen Norden« dermaßen überhöht, dass hinter dem Dauer-Hype der zeitgeschichtliche Kontext ganz verdrängt worden ist: Auch diese Musik hat mit verschwundenen Musikern zu tun, gerade diese Musik!

Einige Produzenten in Kingston hatten zu Beginn der 1970er bereits die Möglichkeit, direkt in ihren Studios Dubplates zu schneiden und zu pressen, Schallfolien aus recht weichem, daher nicht langlebigem Material. Gerade eingesungene Songs konnte man noch am Abend auf eine Dubplate überspielen und diese dann direkt an ein Soundsystem, das eine Bar oder eine Party zu bespaßen hatte, ausliefern. Ein Win-win-Situation: Die DJs bekamen die aktuellsten Stücke, der Produzent hatte schon am nächsten Tag die Rückmeldung, wie gut das Lied beim Publikum ankam. Irgendwann passierte irgendwo beim Überspielen ein Fehler und auf der Dublate landete von einem Song bloß die Instrumentalspur. Der DJ legte die Single auf und ehe er den Fehler korrigieren konnte, hatte das Publikum die Melodie bereits erkannt und sang von sich aus den Text. Diese fröhliche Geschichte, die sich zugetragen haben mag oder nicht, wird bis heute als Geburtsstunde des Dub, der im Kern Instrumental Reggae ist, kolportiert. Die jamaikanische Realität sah anders aus: Mit Michael Manley kam 1972 in freien Wahlen ein Sozialist an die Regierung. Manley, der von einer karibischen Union mit Kuba träumte, geriet schnell ins Fadenkreuz der CIA, Jamaika durfte nicht ins sozialistische Lager wechseln. Straßengangs wurden — mutmaßlich — von der CIA bewaffnet, um das Land durch Bandenkriege und Attentate zu destabilisieren. Manley, der politisch ungeschickt agierte, heizte diese Eskalation noch an, indem er seinerseits ihm wohlgesonnene Gangs hochrüstete. 1976, dem Jahr seiner Wiederwahl, herrschte auf Jamaika faktisch ein Bürgerkrieg — und damit der Ausnahmezustand.

Ja, das darf man einen richtigen Lockdown nennen! Auch die gesamte Party- und Barszene, alle Auftrittsmöglichkeiten für Musiker, Sänger und DJs waren suspendiert. Die Musiker waren verschwunden, zurück blieb Geistermusik. Das ist der Hintergrund, vor dem Dub — tragischerweise — aufblühen konnte: Dub basiert auf meistens langsamen, durchweg in Moll gehaltenen Stücken, die sich im Hall verlieren, bloß noch geisterhaft wehen die Stimmen der Sänger durch die Tracks, die Melodien ­werden nur angespielt, es dominieren — in aller Ärmlichkeit reduziert — Bass und Schlagzeug. Keine gesellige Musik, nichts für eine Party, man hört sie alleine, nachts, mit Wehmut, findet Trost in ihrer Tiefe und ihrer Monochromie. Musik für den Ausnahmezustand. Als die ausgepowerte Regierung Manleys 1980 abgewählt wurde, ohne etwas für den Lebensstandard auf der Insel erreicht zu haben, als also die sozialistischen Träume vorerst ausgeträumt waren und auf Jamaika, wie überall, der zynische Neoliberalismus Einzug hielt, war auch die Ära des Roots Reggae und seines düster-vergrübelten Bruders Dub vorbei. Der Ausnahmezustand endete, und in den Clubs lief jetzt Dancehall, drogenfixierte, hedonistische, brutal knappe und aggres­siv fordernde Tanzmusik. Sie hat ihre Dominanz bis heute nicht eingebüßt.

Man könnte eine halbe Enzyklopädie mit verschwundenen Musikern füllen: Captain Beefheart, der 1982 von jetzt auf gleich seinen surreal verknorzten Blues aufgab, um (wieder) Maler zu werden; Scott Walker, ein Teeniestar der 1960er, der immer weltabgewandter wurde und in Jahrzehntabständen zutiefst verstörte, verstörende Alben vorlegte; Mark Hollis, der nach seiner Zeit als Sänger von Talk Talk nur noch ein Soloalbum veröffentlichte, 1998, bis zu seinem Tod vor drei Jahren aber weiter an Stücken getüftelt haben soll; all die Musiker, die sich 1942 in den USA auf einen recording ban verpflichteten, um von den Plattenfirmen Mindestlöhne und höhere Tantiemen zu erstreiken; und all die Musiker, die nie auf offizielle Bühnen durften, weil Punk in den Städten des Realsozialismus geächtet war.

Was das alles mit der Corona-Krise zu tun hat? Natürlich nichts. Paradoxerweise aber auch ziemlich viel: Die auf diesen Seiten immer wieder geäußerte Befürchtung, das vorläufige (?) Ende der Live- und Club-Musik, wie wir sie kannten, werde ganze Szenen zum Einsturz bringen und einen kreativen brain drain nach sich ziehen, weil viele Musiker sich nach einem anderen Job umsehen müssen, hat sich ­bislang nicht bewahrheitet. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Auch in diesen Herbst- und Winterwochen haben viele Musikerinnen und Musiker ihr Verschwinden genutzt, um die Musik zu spielen, die sie schon immer spielen wollten. Das ist keine schlechte Nachricht, aber auch keine gute, es zeigt einfach, dass es sich lohnt, den Spuren der Verschwundenen zu folgen.