Auf der Flucht vor den Verhältnissen: Deniz Ohde, Foto: Silviu Guiman

Der Staublunge entkommen

Deniz Ohde schildert in »Streulicht« die Ambivalenz des sozialen Aufstiegs

»Bei Dunkelheit glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel«, lässt die 1988 in Frankfurt am Main geborene Deniz Ohde in ihrem Romandebüt »Streulicht« die Protagonistin beim Spaziergang durch ihre frühere Heimat denken. Das Streulicht, durch Staub­partikel gebrochenes Licht, prägt die Stimmung von Ohdes Roman. Eine latente Bedrohung liegt in der Luft, während gleichzeitig die »riesige gestrandete Untertasse«, in der die Erzählerin groß geworden ist, auch Vertrautheit und Geborgenheit bedeutet. »Warum wollte ich gehen«, fragt sie sich. »War es nur gewöhnlicher jugendlicher Tatendrang und Erlebnishunger oder lag es an diesem Ort, diesem spezifischen Fleck Erde, an dem die Luft einen anderen Geschmack hatte.«

Sie kehrt wegen der Hochzeit ihrer Jugendfreunde Pikka und So­phia zurück, die staubige Luft — »als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte« — führt sie in Gedanken zurück in ihre Kindheit und Jugend zwischen Arbeitersiedlung, Zigarettenrauch und Versa­gens­­ängsten. Ihr Vater lebt noch immer in der Wohnung, in der sie aufgewachsen ist; von ihm zeichnet Ohde das liebevolle Porträt eines Arbei­ters, der nutzlose Dinge an­häuft, weil er nie gelernt hat, mit Menschen umzu­­ge­hen. Ihre türkische Mutter ist be­reits vor einigen Jahren gestorben. Sie hatte der Protagonistin vermittelt, ihren Status als Außenseiterin zu akzeptieren, gleichzeitig jedoch vorgelebt, dass ein Entkommen aus den Zuständen möglich ist: Zumindest zeitweise hatte sie sich dem Stress, einen Alkoholiker mit Wutausbrüchen zum Mann zu haben, durch eine eigene Wohnung entzogen.

Weil sie zu leise ist, sich nicht durchsetzen kann, rassistische Alltagserfahrungen macht und ihr als Arbeiterkind ohnehin weniger zuge­traut wird, schafft es die Erzählerin nicht bis zum Abitur. »In jeder Sekun­­de hatte ich das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspiegel hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen«, beschriebt sie den Druck, aus einem sogenann­ten bildungsfernen Haushalt auf dem Gymnasium bestehen zu wollen. Einzig durch den Zufall, dass eine Lehrkraft sie unterstützt, gelingt ihr über den zweiten Bildungsweg die Hochschulreife, und sie kann den »spezifischen Fleck Erde«, der sie so sehr geprägt und eingeengt hat, verlassen.

Ohde zeigt in ihrem Roman eindringlich, wie sehr das Bildungssystem in Deutschland von solchen Zufällen abhängt und wie stark der abwertende Blick auf bildungsferne Schichten auch deren Selbstwahrnehmung prägt.