Präziser Blick auf die Klassenverhältnisse: Marie NDiaye, Foto: Suhrkamp

Der Körper erzählt

Marie NDiaye zeigt Abhängigkeiten einer Anwältin in der französischen Klassengesellschaft

Me Susane ist mit zehn Jahren erstmals Gilles Principaux begegnet: »Bei keinem Jungen, keinem Mann, tatsächlich bei keinem anderen Lebewesen habe ich je diesen eigenartigen Charme wiedergefunden, der mich sozusagen schicksalhaft dazu bestimmt hat, ihn abgöttisch zu lieben.« Was genau vorgefallen ist, als die beiden in seinem Zimmer in dem großen Haus waren, in dem die Mutter von Me Susane als Putzhilfe gearbeitet hat, weiß sie nicht mehr genau. Ihr Vater vermutet, sie sei vergewaltigt worden. Sie erinnert sich, dass der junge Mann ihre Lust, zu argumentieren geweckt und sie an ihren Beruf als Anwältin herangeführt habe. Eines Tages steht Gilles Principaux erneut vor ihr, diesmal als Klient. Er möchte, dass sie seine Frau vertritt. Sie hat die drei gemeinsamen Kinder in der Badewanne ertränkt, was ihren Ehemann aber kaum mitnimmt.

Marie NDiaye schildert so in ihrem Roman »Die Rache ist mein« die französische Klassengesellschaft und ihre psychischen Verwundungen und Abhängigkeiten. Me Susane, die soziale Aufsteigerin, pendelt zwischen dem verkrampften Verhältnis zu ihren Eltern, die ihr fremd geworden sind, und dem Verhältnis zu ihrer mauritischen Haushaltshilfe Sharon. Der will

sie unbedingt zu einem Aufenthaltstitel verhelfen, aber Sharon ist die zugleich Nähe einfordernde Anwältin suspekt. Und dann ist da noch Marlyne Principaux, die den Mord an ihren Kindern als Befreiung aus einer Ehe beschreibt, in der Intimität aufgrund ihres Ehemanns nicht mehr möglich ist.  Ihr Mann habe Waffen, die ihr fremd seien, sagt sie zu ihrer Anwältin, und das Gefühl, dass er diese Waffen gegen sie eingesetzt hat, verbindet die beiden Frauen.

NDiaye schildert all dies durch den Fokus von Me Susane. Sie wahrt stets die Contenance, aber ihr Körper verrät ihre Psyche. Mal wird sie als massig bezeichnet, mal als mager. Als sie Monsieur Principaux mit Stiefeletten beeindrucken will, stürzt sie und verletzt sich. Die Klasse ist Körper und Geist zugleich. Das macht »Die Rache ist mein« in beeindruckender Sprache deutlich.

Marie NDiaye: »Die Rache ist mein«, Suhrkamp, 236 Seiten, 22 Euro


Eigentlich hätte Marie NDiaye am 4.2. im Kölnischen Kunstverein lesen sollen. Leider muss die Veranstaltung abgesagt werden und wird voraussichtlich im Frühsommer nachgeholt.