»Ein Seemann braucht eine Heimat«

Mit Indie-Legende Mike Watt unterwegs durch San Pedro, jenen mystisch aufgeladenen Hafen-Vorort von Los Angeles, wo der Westcoast-Punk entstand

Erwähnt man den Namen Mike Watt in amerikanischen Musikkreisen erntet man anerkennendes Nicken. Auf Watt, wie sie ihn liebevoll nennen, können sich alle einigen: von Henry Rollins und Raymond Pettibon über Sonic Youth und die Beastie Boys bis zu Flea von den Red Hot Chili Peppers und Dave Grohl von den Foo Fighters. Wenn der heute 64-jährige Bassist und Sänger ruft — derzeit für seine seit Pandemiebeginn fast täglich ausgestrahlte »The Watt from Pedro Show« —, sagt man gerne zu. Das liegt zum einen an seinem ursympathischen Wesen, zum anderen natürlich an seinen früheren Bands Minutemen und fIREHOSE. Die waren und sind bisheute für nicht wenige musikalische Leitbilder. So verwundert es nicht, dass Michael Azerrad, offizieller Nirvana-Biograph, seine Chronic der Amerikanischen Indiemusik nach dem Minutemen-Slogan »Our Band Could Be Your Life« betitelt hat.

Spätestens seit der Minutemen-Filmdoku »We Jam Econo« ist Watt dafür bekannt, in seinem Bandbus, den er liebevoll sein »Boot« nennt,  Touren durch San Pedro zu geben und so einen aktiven Teil an der Geschichtsschreibung einer Szene zu leisten, für die er selbst den Begriff »Movement« bevorzugt: Bewegung.

Man kann sich so eine Tour mit Mike Watt wie einen zweistündigen Redemonolog vorstellen. Wo bei anderen soviel Mitteilungsdrang nerven kann, stört es bei ihm keinen Moment. »Was erinnern wir? Wie erinnern wir?«, fragt Watt — und ergänzt: »Es gibt nicht nur die eine Geschichtsschreibung!«

Zunächst aber flucht er über die Jugendlichen, die mehr auf ihr Mobile als den Straßenverkehr achten, und bringt seine abgrundtiefe Missachtung für die Immobilienentwickler zum Ausdruck, die jede noch so von der ansässigen Ölindustrie über Jahrzehnte verschmutze Wiese San Pedros in Spekulationsobjekte umwandeln — mit dem traurigen Nebeneffekt, dass die Krebserkrankungsrate sehr hoch ist.

Trotzdem liebt Watt seine Heimatstadt, in der er seit 55 Jahren lebt, wie keinen zweiten Ort auf der Welt. Nach Pedro kam er 1967, als sein Vater, ein Sehmann auf einem Atom-U-Boot, während des Vietnamkriegs dorthin versetzt wurde.

Unser erster Stopp findet am Peck Park statt. Lebhaft erinnert sich Watt, wie er hier einst D. Boon kennengelernt hat: »Plötzlich sprang er aus einem Baum auf mich herunter, rief »Du bist kein Eskimo« aus und legte ein Stand-Up-Comedy-Programm hin — danach war es um mich geschehen, auch wenn ich später bemerkte, dass das alles nur Sprüche aus einer TV-Show waren, die er gesehen hatte und nicht von ihm stammte.«  D. Boon (D steht für Dennes) wurde sein bester Freund.

Schnell gründeten die beiden ihre eigene Band — im Januar 1980: die Minutemen. Spielen konnten sie zwar noch nicht, aber das sollte sie nicht stören, zumal das Repertoire zunächst sowieso nur aus Coverversionen bestand. »Am Anfang haben wir lediglich die Ideen anderer Leute kopiert«, erinnert sich Watt. »Erst mit dem Movement dachten wir überhaupt daran, dass man selbst Songs schrei­ben könnte.«

Da ist es wieder: das Movement. Ihre Initialbegegnung mit diesem hatten die beiden im 30 Meilen nördlich von San Pedro gelegenen Hollywood, das in den späten 1970er- und frühen 80er-Jahren ein wenig glamouröser, ziemlich gefährlicher Ort war — und aufgrund billiger Mieten und hoher Club- und Bardichte von großer Anziehungskraft für die prosperierende Punkszene.

Der Schlagzeuger einer be­­freun­deten Band hatte ihnen Geschichten von dieser geheimnisvollen Szene erzählt, Geschichten, die ihnen so verrückt vorkamen, dass sie unbedingt selbst nachschauen wollten. Danach war für die Kids aus dem Arbeiterviertel Pedro nichts mehr wie vorher.

Fragt man Watt, was das Movement für ihn so besonders machte, so spielen Aspekte wie Musikstil, Kleidung oder Haarschnitt keine Rolle, ihn fasziniert vor allem die Selbstermächtigung. »Ich kannte das vorher nicht, dass die Person, die eben noch neben dir gestanden ist, plötzlich auf die Bühne ging und selbst spielte. Die Konzerte fanden auf Augenhöhe statt. Das hat mich umgehauen«, erinnert er sich lebhaft.

Für die Minutemen war Musik ein politischer Akt — der Name verweist auf eine Milizgruppe im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Watt erzählt, dass sie nie davon sprachen, Texte zu schreiben, »wir nannten es laut denken.« Ihre Songs, die Punk mit Anleihen aus Country, Mariachi und Funk durchsetzten, waren kurz und hektisch. Das Dogma der Band hieß: »econo«, man wollte wirtschaftlich mit den eigenen Ressourcen umgehen und nicht zuviel Zeit und Aufwand in die Musik investieren. Mit ihrem 1984 veröffentlichten Doppelalbum »Double Nickels On the Dime« trieben sie dieses Vorgehen auf die Spitze: doppelt soviel Musik, noch weniger Zeit im Studio. Gerade deswegen gilt das Album als der Klassiker des amerikanischen Punk.

Alles endete abrupt mit dem Tod von D. Boon, der am 22.12.1985 bei einem tragischen Verkehrsunfall am Vorabend einer großen Tournee im Vorprogramm von R.E.M. ums Leben kam. Er rollte schlafend aus dem nicht richtig geschlossenen Bandbus auf die Autobahn und wurde überfahren. Danach wollte Watt eigentlich nie mehr Musik machen, aber ihr Riesen-Fan ed fROMOHIO überredete den Minutemen-Drummer George Hurley und Watt gemeinsam, eine neue Band zu gründen: fIREHOSE.

Wir befinden uns noch immer im Peck Park. »Sein Todestag war der schlimmste Tag meines Lebens«, sagt Watt und schaut mit traurigen Blick über »ihren Spielplatz«. Es vergeht kein Jahr, an dem er am 1. April, dem Geburtstag von D. Boon, nicht mit Postings und Rundmails an seinen Freund erinnert. Auch Touren wie heute gehören zu seinem Ritual. »Sich physisch an die Orte zu begeben, wo die Dinge passiert sind, hilft dabei, die Erinnerungen nicht verblassen zu lassen«, führt er aus — und legt nach: »Wobei es gut ist, Orte für die Erinnerungen zu pflegen, so dass sie einen nicht permanent belagern und davon abhalten, neue Dinge zu tun — man darf nie ver­gessen: unsere Schicht hier ist zeitlich sehr begrenzt. Wir leben nicht für immer!«

Wir sind wieder in das »Boot« eingestiegen und fahren die Hauptstraße von San Pedro entlang, am Gerichtsgebäude vorbei hin zu jenem Straßenzug, wo das Coverfoto zu »Double Nickels On the Dime« entstanden ist. »Wir fingen so richtig an, als Ronald Reagan gewählt wurde«, erzählt Watt. Es war eine Ära des politischen und kulturellen Backclash. Ich frage ihn, ob das Movement für ihn denn noch existiert. »Oh ja«, antwortet er lebhaft.»Es ist eine Technik, die andere, jüngere heute  überall auf der Welt aufgreifen.« Er verweist auf seine Radioshow, mit der er die Fluchtlinien der eigenen Bewegung aufgreift und die Lücken in der Geschichtsschreibung schließt, in dem er all die Bands spielt, die damals von Bedeutung waren, die es aber nicht in das Underground-Gedächtnis geschafft haben.

Watt spricht einen blinden Fleck der Bewegung an: die fehlende Repräsentation von Frauen. Was absurd sei, da es am Anfang gerade Frauen gewesen seien, die alles geprägt haben. »Das war, bevor die Boys aus den Vororten kamen. Punk steht heute für schnelle Gitarrenmusik. Dem war am Anfang nicht so. Sid Vicious hat den Pogo erfunden. Das Slamming aber war wie Football spielen, immer die Arme hoch und runter — und urpötzlich war alles super gewalt­tätig. So wurden die Frauen raus gedrängt.« Nicht die einzige Veränderung, die Watt beobachtete: »Das ging einher mit zunehmenden Druck von Peer-Groups an den Schulen. Auf einmal waren distinktive Outfits gefragt. Weißt du, die Korruption einer Bewegung, sie kommt nicht nur durch das Geld, es sind viele Mechanismen, die eine Rolle spielen.«

Wir kommen vor dem Postgebäude von San Pedro zu stehen, wo mir Watt eine Freskomalerei zeigt, die die Arbeiterbewegungen weltweit verbindet. Langsam bricht die Sonne durch den morgendlichen Nebel hindurch. Von hier oben bekommt man einen guten Eindruck, wie groß der Hafen von San Pedro ist, kann man seine Bedeutung als Han­delsumschlagplatz einschätzen, spürt noch die militärische Rolle, die er einst spielte.

Alle paar Tage geht Watt morgens am Wasser spazieren, ganz in der Nähe des Warehouse 1, dem allersten Lagerhaus des Hafens. Er zeigt auf ein Gebäude auf der anderen Seite des Wasser, das Gefängnis — und da ein paar Meter weiter das alte Immigrationsoffice, wo für jene, die rein kamen, das neue Leben anfing, nicht selten mit neuem Namen — weil der Immigration-Offizier einen Fehler gemacht hatte und niemand es wagte, ihn zu korrigieren. Die Themen wechseln im Sekundentakt: Eben noch geht es um Thunfischfang, dann um das amerikanischen Gesundheitswesen und schließlich um Cancel Culture, ein Thema, an dem man aktuell auf keiner Dinner Party in den USA vorbei kommt. Watt nimmt es zum Anlass, an einige dunklen Momente der USA Geschichte zu erinnern: an die Spanier, die einst in Kalifornien ankamen und die Yuroks, die eigent­lichen Ureinwohner von Kalifornien so brutal vertrieben; an das kapitalistische Empire, das das Land an sich gerissen hat; an die Relocation Center, in die japanischen Einwanderer während des 2. Weltkriegs interniert wurden — man könnte die Reihe endlos fortsetzen, gibt er zu verstehen.

Wir fahren weiter zum alten Leuchtturm. Der richtige Ort, um über Fernweh und zu sprechen. »Punk ermächtigte uns die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: Konzerte zu organisieren, Platten zu produzieren. Dass wir mal davon leben könnten und um die Welt touren würden, damit haben wir damals nicht gerechnet. Zu Minutemen-Zeiten mussten wir noch nebenher arbeiten.« Bands wie Black Flag, Sonic Youth, Meat Puppets und natürlich die Minutemen haben den Nährboden für Indiestrukturen gelegt, wie wir sie heute kennen. »Durch das Touren gab es plötzlich eine finanzielle Perspektive«, führt er aus — zumindest für jene, denen dieser Lebensstil zusagte. »Mein Vater hatte einen großen Einfluss. Als er in Vietnam stationiert war, war er oft neun und mehr Monate am Stück weg. Wenn er zurück kam, sind wir stundenlang rumgefahren zusammen und erzählte mir von seinen Erlebnissen. Ich wollte auch den Shit sehen, den er gesehen hat — nun wollte ich auf Tour gehen.« Wenn es geht, spielt Watt um die 150 Konzerte im Jahr. »Ich bin wie ein Seemann. Ich schicke Karten von unterwegs nach Hause — und ich komme immer wieder zurück. Ein Seemann braucht eine Heimat.«

Zum Ende der Tour nimmt Mike Watt mich in sein Studio, das auf einer Anhöhe über dem Hafen von San Pedro in einem ehemaligen Armeegebäude untergebracht ist. Hier probt er seit 36 Jahren. Kaum hat er die Tür zum Proberaum geschlossen, wird sein Redefluss langsamer. Spricht er den Schlussmonolog noch zu mir? Oder zu sich selbst? »So sieht meine Realität aus. Meine Musikwelt ist eine ziemlich einfache. Krieg deine Songs auf die Reihe, probe sie ein — und hinein in das Boot! In den letzten 40 Jahren hat sich das kaum verändert. … Es war eine tolle Zeit, damals. Aber ich muss im Jetzt leben und darf nicht nostalgisch werden.  Die Integrität, die Werte der Bewegung, sie leiten mich noch heute. Ohne die Bewegung hätte es Minutemen nie gegeben. … Wie kam es dazu, dass ich von meiner Musik leben kann? Ich habe das nie geplant. Ich habe mit dem Musikmachen mit meinem besten Freund begonnen. Dinge passieren … Es ist ein Trip.«