Hala: Aus dem Leben einer Revolutionärin, Foto: Antonia Kilian

»Warum haben sie zur Waffe gegriffen?«

Filmemacherin Antonia Kilian im Gespräch über ihren Dokumentarfilm »The Other Side of the River — No Women, No Revolution«

Du hast als eine der ersten das »Experiment Rojava« und die kurdischen YPG-Kämpferinnen, die sich dem IS entgegengestellt hatten, gefilmt. Was wolltest du erzählen?

Mich interessierte die Frauenbewegung in den Kurdengebieten in Rojava, ihre Vision einer freien Gesellschaft. Wie Frauen sich in Syrien ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und Strukturen dafür aufbauen. Ich bin 2016 hingefahren, kurz nachdem das kurdische Militär die Stadt Minbij befreit hat. Dort habe ich ein Jahr gelebt, anderthalb Jahre gedreht und zwei Jahre geschnitten.

Du bleibst sehr dicht an deiner 19-jährigen Protagonistin Hala dran. Dabei relativiert sich auch ein verbreitetes Bild: Der IS, das waren die Täter, jetzt sind sie weg! Immerhin waren 60 Familienmitglieder Halas beim IS.

Ich wollte Halas Zerrissenheit, ihr Land, die Stadt, die Familie einfangen. Aus meiner Perspektive als Kamerafrau und Regisseurin, die versucht komplexe Dinge zu verstehen. Ich wollte allen unvoreingenommen begegnen — und in ihren Widersprüchlichkeiten Raum geben. Die Stadt hat mehr erlebt als diese Terrorherrschaft. Minbij war das Zentrum der Revolution gegen den Diktator Asad, dann selbstverwaltet, dann kam der IS, dann die Kurden. Auch das oberflächliche und fast orientalistische Bild der heldenhaften kurdischen Kämpferinnen wollten wir etwas komplexer darstellen. Welche Möglichkeiten haben diese Frauen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Warum haben sie zur Waffe gegriffen und was passiert danach? Wie geht das Leben weiter?

Viele Kämpferinnen übernehmen einen patriarchalischen Ehrbegriff. In einer Szene sagt ihnen die Ausbilderin, sie sollen ihre Lüste und Sehnsüchte unterdrücken.

Ich durfte auch solche kritischen Szenen drehen — bei denen ich selber an meine persönlichen Grenzen komme, wenn es um Fragen der Selbstbestimmung der Körper von Frauen geht. Eine Erklärung für diese Keuschheit wäre: Sie macht es für die Eltern erträglicher, ihre Töchter in den Widerstand ziehen zu lassen. Eine andere: Bei Revolutionär*­innen soll es um wichtigere Sachen gehen als Sex und Körperlichkeit.

Werden solche Grenzen und Unterschiede der Moralvorstellungen offen thematisiert?

Es hieß: Ihr im Westen mit Eurem liberalen Freiheitsbegriff, bei euch geht es ja nur darum, dass frau machen kann, was sie will. Frei sein, feiern. Aber ihr habt kein Konzept für gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Wobei ich mit meinem liberalen Freiheitsbegriff durchaus an eine andere Gesellschaft denke, und dabei an so etwas wie eine sexuelle Revolution gleich mit. Die spielt aber erstmal in Rojava keine Rolle. Das sind reale Unterschiede,  obwohl sich Dinge dort langsam verändern in Bezug auf Körperlichkeit und Beziehung.

Wie ist das Verhältnis zwischen Frauen und den männlichen Streitkräften?

Was man als »Frauenrevolution« bezeichnet, wird durchgezogen und funktioniert. In zivilen wie militärischen Institutionen gibt es Doppelspitzen, Frauen und Männer in Führungspositionen.  Kommandantin Eylem ist mit einem Mann Chefin für die innere Sicherheit der Stadt — sie für die Frauenkräfte, er für die Männer.

Wieso war es ein Stein des Anstoßes, dass Hala dieser Polizei beitritt?

Minbij ist keine rein kurdische Stadt. Es war die erste große arabische Stadt, die sie vom IS befreit haben und plötzlich auch kontrollieren mussten. Halas Familie hat plötzlich erlebt, wie die Kurden sie kontrolliert haben. Das Hauptproblem war, dass ihre Tochter »zum Feind« übergelaufen ist.

Neben der Grenze der Geschlechter ist das Ethnische eine wichtige Grenze. Wie sind da die Zuschreibungen?

Den Kurden wurde jahrelang verboten, ihre Sprache zu sprechen, sie durften das Land nicht verlassen. Mit der Revolution hat Asad ihnen Pässe gegeben, und sie konnten ihre Kultur ausleben. Rojava hat den Anspruch, ein multiethnisches demokratisches Projekt zu sein, das alle einschließt — Araber, Assyrer, Yeziden und andere. Aber natürlich haben die alten Zuschreibungen — man kann es auch Rassismus nennen — ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht ändert sich das.

Wie selbstverständlich geht man in der Region damit um, gefilmt zu werden?

Es gibt sehr viele Kameras dort seit der Revolution und dem Krieg, die von allen Seiten genutzt werden, um Propaganda zu verbreiten. In Rojava gab es ein Gefühl von Misstrauen: Was filmt sie, was will sie erzählen? Was sie dort kannten, waren kurze journalistische Filme oder Propaganda-Clips. Mein Ansatz war sehr ungewöhnlich. Aber meine Protagonistin, Hala, hatte Lust gefilmt zu werden, sprudelte vor Energie und wollte unbedingt ihre Geschichte erzählen.

Inwieweit gibt es eine eigene Filmproduktion und internationalen Austausch?

Es gibt ein jährliches Filmfestival und Kollaborationen weltweit. Die Rojava Film Kommune produziert Filme, um die Jugend unterrichten, und Filmkultur wieder zu beleben, die unter Asad sehr gelitten hat. Alle Kinos wurden in den letzten dreißig Jahren Pornokinos. Safinaz Evdike, die Leiterin, hat mir sehr geholfen und gerade selber einen Spielfilm in der Postproduktion. Sie ist mit anderen bei mir in Kassel, um als Kollektiv die Documenta vorzubereiten. Eine Arbeit wird parallel in Rojava und Kassel stattfinden.

D/FIN 2021, R: Antonia Kilian, 95 Min., Start: 27. Januar, Vorführung in der Anwesenheit der Regisseurin: Mi, 2.2,, 19.30 Uhr, Odeon