»Was sie denkt, bleibt ein Geheimnis«

Andrea Arnold über ihren Dokumentarfilm »Cow« und dessen Hauptdarstellerin Luma

Sie sind vor allem für Ihre Spielfilme »Fish Tank«, »Wuthering Heights« oder »American Honey« bekannt. Wie kam es zum Dokumentarfilm »Cow«?

Die Idee reicht bestimmt sieben Jahre zurück. Ich wollte etwas über Landwirtschaft und Viehzucht machen, wusste aber nicht, wie es aussehen sollte. Dann hatte ich die Idee, ein lebendiges Wesen zu beobachten, so ähnlich wie in meinen Spielfilmen. Ich bin mein ganzes Leben lang von Tieren umgeben, weiß einiges über ihre Instinkte und Verhaltensweisen. Darum war ich sicher, dass das Tier, dem ich folgen wollte, eine Persönlichkeit hätte. Es war nicht so wichtig, was für ein Film das werden würde — kurz oder lang, Dokumentarfilm oder Drama. Ich wollte es ausprobieren, und es musste in keine Schubladen passen.

Warum haben Sie eine Kuh als Protagonistin gewählt?

Ich habe Kühe schon immer geliebt. Ich wuchs in einer ländlichen Gegend auf, die von viel Natur umgeben war. Dort tollte ich als Kind herum. Als 18-Jährige ging ich mit meinem Freund auf einem Feld spazieren, da begegneten uns Kühe. Sie kamen auf mich zu, leckten mich ab. Eine spannende Erfahrung, zumal Kühe so groß und mächtig sind. Daraufhin begann ich mich für die Milcherzeugung zu interessieren. Eine große Industrie. Das Verrückte ist ja, dass Milchkühe ihr ganzes Leben lang in einer Art mütterlichem Zustand gehalten werden, um Milch geben zu können. Sie werden gemolken, befruchtet, sind schwanger, gebären Kälber — das ist ihre Existenz! Wie fühlt es sich an, so leben zu müssen?

Wie kann man sich die Dreharbeiten praktisch vorstellen?

Es ging zunächst darum, eine durchschnittliche Milchfarm zu finden. Es gibt alle möglichen Arten von Milchfarmen, von groß und industriell bis klein und biobetrieben. Die Farm, die wir ausgesucht haben, war ein mittelgroßer Familienbetrieb. Das war mir sehr recht — ich wollte keine Extreme ausloten. Wir kehrten über vier Jahre hinweg regelmäßig dorthin zurück — immer dann, wenn etwas passierte. Ich wollte zunächst einem Neugeborenen und seinem Lebenszyklus folgen. Doch das ergab sich leider nicht. Dann entdeckten wir Luma, die »Hauptdarstellerin«. Sie hatte so ein schönes Gesicht. Sie wurde schwanger, und wir filmten die Geburt. Luma war die perfekte Kandidatin.

Man kann einer Kuh nicht sagen, wie sie vor einer Kamera agieren soll. Haben Sie sich vollkommen auf den Zufall verlassen müssen?

Meine Absicht war es, die Dinge so zu präsentieren, wie sie sind. Ich wollte nichts manipulieren. Man muss immer eine Wahl treffen. Beim Dreh. Im Schneideraum. Innerhalb dieses Rahmens habe ich versucht, einfach nur zu zeigen, was geschieht. Dazu gehörte auch, dass Luma sich der Kamera bewusst war. Sie schlug gerne mal mit dem Kopf dagegen oder sah neugierig hinein. Ich habe mich dafür entschieden, diese Szenen drin zu lassen. Ich dachte: Wenn sie mit dem Prozess des Filmemachens interagiert, muss man das beibehalten, denn das ist die Wahrheit.

Die Kamera geht manchmal sehr nah ran an die Kuh. Hat das Luma manchmal genervt?

Die Kühe sind es gewohnt, dass andauernd jemand um sie herum ist. Ihr Leben wird von Menschen geregelt und bestimmt. Luma fühlte sich also nicht außerordentlich gestört. Wir haben auch darauf geachtet, sämtliche Tiere, die beteiligt waren, in Ruhe zu lassen, wenn der Zeitpunkt nicht passend erschien. Wir haben sie respektiert. Sie geliebt. Luma hatte sich daran gewöhnt, dass wir sie beobachten, mit einer sehr kleinen Kamera. Ab einem gewissen Punkt hatte ich das Gefühl, sie wusste, dass sie gesehen wurde. Immer wenn sie in die Kamera schaute, schien sie zu spüren, was mir durch den Kopf ging: »Ich sehe Dich, Luma!« Und sie dachte: »Sie sehen mich.« Natürlich kann ich nicht wissen, was das in Bezug auf ihr Bewusstsein bedeutet.

Es bedeutet zumindest, dass siein dem Moment auch die Kinozu­schauer*innen ansieht. Man fragt sich unwillkürlich, was sie dabei denkt und fühlt. Für mich per­sönlich war das ein sehr großer Moment.

Ich liebe es auch, wenn sie so in die Kamera schaut. Was sie denkt, bleibt ein Geheimnis.

Es ist interessant, wie Sie in »Cow« die Welt außerhalb des Milchhofes zeigen. Man sieht Regionalzüge, dazu Flugzeuge, einen »Brexit«-Heißluftballon, Feuerwerk, Vögel, die Sterne und den Mond am Himmel. Sind das für Sie Symbole der Freiheit?

Vielleicht. Kennen Sie das, wenn man Tiere aus einem fahrenden Zug beobachtet? Ich habe diese Situation umgekehrt. In der Nähe der Farm gab es eine vielbefahrene Straße. Mir gefiel die Idee, dass das eine ständige Erinnerung an uns Menschen ist. Die Tiere sind wegen uns dort. Wir sehen sie, aber wir engagieren uns nicht für die Tiere, die wir für Nahrung und Kleidung benutzen. Das ist meine Art, uns daran zu erinnern, wer wir sind. Die Sterne waren einfach da, und sie waren schön. Die Kühe bewegen sich nachts sehr friedvoll auf dem Feld. Das war ein sehr kraftvolles Bild. Ich zeige keine anderen Menschen, die diese Dinge außerhalb des Milchhofes sehen. Es könnte also sein, dass nur die Kühe die Dinge so sehen und erfahren.

GB 2019, R: Andrea Arnold, 94 Min., ab 11.2. online bei MUBI