»Was möchten wir eigentlich erreichen?«

Baustellen, Pandemie und die Lust am Engagement: Kölns neuer Kulturdezernent Stefan Charles über die Kunstszene der Stadt und seine ersten 100 Tag im Amt

Herr Charles, Wir kennen alle den fatalen Satz Ihrer Vorgängerin, sie habe nicht den Oberverantwortungshut auf. Sie haben vermutlich nicht zufällig bei Amtsantritt mehrfach dezidiert öffentlich gesagt, dass Sie Verantwortung übernehmen möchten. Eine kleine Retourkutsche?

Gar nicht, tatsächlich waren mir früh zwei Dinge klar, als ich mich beworben habe für diesen Posten. Punkt 1: Ich will mich für die ­Kultur engagieren. Punkt 2: ich will Verantwortung übernehmen. Das waren die beiden Aspekte, die mir in meinem Beruf am allerwichtigsten sind.

Wenn Sie nach Ihren ersten drei Monaten auf Köln und seine Kunstszene schauen: Was hatten Sie ­vorher für ein Bild und hat es sich geändert?

Ja, es hat sich geändert. Man versucht ja immer, Dinge mit dem zu vergleichen, was man kennt, und ich kann es am ehesten mit Basel vergleichen. Dort war ich Managing Director des Kunstmuseum Basel und kann jetzt vieles abrufen an Berufserfahrung, die mir hier nutzt. Es ist dieses Engagement einer Stadtbevölkerung für die Kunst, das ich sehr stark wiedererkenne  — dass sich viele Menschen in der Kultur für die Kultur engagieren, und zwar auf unterschiedlichsten Ebenen.

Was genau fällt Ihnen da auf?

Was mir nicht so klar war, ist das sehr breite Spektrum an Kunst, das Köln ausmacht. Es gibt hier ein Kunst- und Kulturverständnis, das einerseits das Historische betrifft; es gibt etwa eine unglaubliche Leidenschaft für das Sammeln, auf jede Art und Weise. Es ist quasi in der DNA dieser Menschen verankert. Man hat aber auch keine Angst vor dem Zeitgenössischen, vor Innovationen und Veränderungen in der Kunst. Und das finde ich doch ziemlich bemerkenswert, dass beides wirklich Hand in Hand geht.

Wobei es doch Paralleluniversen gibt, die einander kaum begegnen. Wie sehen Sie die Strukturen, die sich in diesem breiten Kölner Kulturschaffen herausgebildet haben?

Was die Freie Szene betrifft, in der Musik und beim Jazz oder wo auch immer, habe ich bereits in der kurzen Zeit erfahren können, dass es schon eine starke Vernetzung gibt. Es gibt viele Verbände, Interessengemeinschaften, die sich bei vielen Themen gemeinsam stark machen und einsetzen und nicht nur als Einzelkämpfer verstehen. Das finde ich toll, dass man versteht, dass sich gemeinsam mehr oder andere Dinge erreichen lassen. Das hätte ich nicht gedacht, dass das so ausgeprägt ist.

Lassen Sie uns auch über Probleme reden: Wo hakt es?

Es ist vielleicht eine Gefahr da, dass sich die Stadt auch im Kulturbereich ein bisschen selbst genügt. Köln hat so eine kritische Größe, man braucht die anderen nicht unbedingt, und das kann die Gefahr implizieren, dass man sich international zu wenig misst und gar nicht so ein Interesse daran hat, was sonst auf der Welt los ist — das finde ich aber total wichtig! Als Schweizer ist das natürlich sehr auffällig, ich komme aus so einem kleinen Land, da muss man zwangsläufig über die Grenze hinaus schauen. Das ist aber Köln nicht unbedingt, es hat eine gewisse Power, eine Metropolstellung, und das birgt auch eine Gefahr.

Man muss ja differenzieren: Sprechen wir über die Kultur oder über Kulturpolitik?!

Kulturpolitisch hat Köln bekanntlich über Jahre fürchterlich dilettiert, vom Abriss der Kunsthalle bis hin zu den aktuellen Kulturbaustellen. Die haben Sie nun auch geerbt von Ihren Vorgängern: Neubau Stadtmuseum, Sanierung Römisch-Germanisches, der Anbau für das Wallraf, das neue jüdische Museum MIQUA — nicht zu vergessen das Opernensemble. Verhebt Köln sich mit seinen Großprojekten? Das sind keine kulturellen Probleme, sondern bauliche, und das zu lösen vermag die Kultur ja gar nicht. Dass man im Bereich der Kulturbauten in einer sehr schwierigen Situation ist, das ist natürlich eine Tatsache. Gerade konnte man in der Zeitung lesen, dass auch beim Jüdischen Museum der Baufortschritt wieder gefährdet ist wegen eines Stahlbauers, der nicht liefert. Das ist natürlich schon hart, in meiner Position, weil ich ja versuchen muss, eine Strategie zu entwickeln. Wie wollen wir diese Museen inhaltlich positionieren? Die Bauhülle ist das Eine, aber  mir geht es vor allem um die Frage: Was möchten wir eigentlich erreichen für die Öffentlichkeit? Man hat ja lange immer über Outcome gesprochen, auch in der Kultur, also über Besucherzahlen, heute geht es eher um Impact: Was erzielt man mit diesen Museen eigentlich für eine Wirkung? Ich glaube, darum müsste es uns viel mehr gehen. Meine Aufgabe ist jetzt, dieses Narrativ zu verändern und mit den richtigen Fragen in die Diskussion zu gehen, statt mit dem Rücken zur Wand über fehlende Baufortschritte zu diskutieren. Gut ist aber, dass ich mit dem Baudezernenten Markus Greitemann und der Kämmerin Frau Diemert Kolleg*innen habe, mit denen ich  wirklich ganz offen auf sehr, sehr kurzen Wegen reden  kann. Wir haben alle das Ziel, die Probleme zu lösen. Das werden wir jetzt tun.

Ein Problem war in der Vergangenheit auch ein Stadtmarketing, mit dem sich die Kulturschaffenden nicht identifizieren konnten, man setzte auf Kölsch, Karneval, die »Eventstadt« Köln … Haben Sie Ideen oder gar Pläne für ein anderes Marketing?

Marketing ist ein schwieriger Begriff. Wenn wir gute Themen im Bereich Kultur haben, die überregional ausstrahlen sollen, sollten wir uns nicht scheuen mit Teams zusammenzuarbeiten, die Marketing-Spezialisten sind. Es gibt in der Kreativwirtschaft ganz, ganz tolle Leute hier in Köln, und ich glaube, dass ich sie mit gewissen Themen begeistern könnte für Kooperationen. Da ist aber auch noch die Sorge, was jetzt im Zusammenhang mit der Pandemie passiert. Wir trauen uns im Moment ja nicht mal den Menschen zu sagen »Kommt alle in unsere Häuser!« — das fühlt sich irgendwie derzeit nicht richtig an bei diesen Inzidenzen, weil wir alle eine riesen Verantwortung haben als öffentliche Bildungseinrichtungen. Das ist ein schlimmer Zustand. Ich wünsche mir wirklich, dass der sehr bald zu Ende ist.

Nehmen wir an, er ist dann mal zu Ende: Wird Marketing und Öffentlichkeitsarbeit ein Schwerpunkt sein oder neigen Sie doch zu der Auffassung, gute Inhalte setzen sich alleine durch?

(lacht) Das ist ein sehr frommer Wunsch. Beim öffentlichen Rundfunk habe ich gelernt, dass man auch bei allerbesten Inhalten ernsthaft kämpfen muss um Aufmerksamkeit. Ich habe aber nicht den Anspruch, dass sich Menschen 24 Stunden/7 Tage die Woche für Kultur interessieren. Es ist einfach so: Die Pendler morgens im Zug lesen oder hören kurze Häppchen, wollen schnell Informationen über das Tagesgeschehen, aber am Wochenende beispielsweise sind Menschen durchaus bereit, sich eine halbe Stunde oder Stunde kulturellen Themen zu widmen. Wir dürfen nicht pauschal den Anspruch stellen, ihr müsst uns immer toll finden, sondern wir sollten Angebote schaffen, die etwas mit der Realität der Menschen zu tun haben. Ich wünsche mir etwa, dass die Museen Orte sind, wo man sich gerne im Café oder in der Lobby trifft zum Kaffee, weil es einfach ein toller Ort ist! Und so müssen wir diese Orte jetzt gestalten. Ich habe gelernt, dass beispielsweise auch das Museum Ludwig so gebaut war, mit einer öffentlichen Eingangszone. Aber die fühlt sich nicht öffentlich an!

Kasper König, der frühere Direktor des Museums Ludwig, wollte es schon vor 20 Jahren ganz öffnen, dagegen kam Widerstand aus der Politik: Um Gottes willen, wenn die Türen immer auf sind, rasen Skateboardfahrer da durch und in den Ecken lagern Obdachlose… König erwiderte, die Skater sind vielleicht die Museumsbesucher von morgen. Der jetzige Zustand ist der Kompromiss.

Also, da bin ich ganz bei König. Das ist genau die richtige Idee und das muss uns gelingen, dass wir die Kunst und unsere Ausstellungshäuser zu solchen öffentlichen Orten machen. Wenn heute über Museumsneubauten gesprochen wird, geht es genau um diese Themen: Wie sehr muss und darf ein Museum eine öffentliche ­Fläche sein?

Es braucht dazu natürlich die richtigen Inhalte. Wie werden die Museen zukunftsfähig in diesen Zeiten des Umbruchs, der Neuorientierung?

Was die Programme für 2022 angeht finde ich, dass alle wichtigen Themen dabei sind. Aber wenn wir von Diversität und von Teilhabe sprechen, dann muss sich das natürlich auch im Team widerspiegeln. Was Gender angeht, hat sich vieles getan in den letzten Jahren, aber wir sind nicht multinational aufgestellt in den Teams der Museen. Auch was den Anteil von Menschen mit Behinderungen angeht, könnten wir mehr machen: nicht nur Programme für diese Menschen, sondern sie sollen auch in den Museen arbeiten. Ein weiterer Aspekt ist die Digitalisierung: Es gibt Dinge wie Podcasts oder Video-Docs, solche Möglichkeiten der Kommunikation und Vermittlung werden derzeit viel zu wenig genutzt.

Kürzlich haben Sie davon gesprochen, dass Kunst und Kultur sozusagen Coaches für gesellschaftliche Transformation sein können, das hat mir gefallen. Sie selber haben sich ausführlich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt. Wie geht das?

Wie können die Museen »grüner« werden? Eine bepflanzte Dachterrasse allein ist da wohl etwas mickrig. Ganz bestimmt. Ich habe mich während meines Studiums in Genf mit diesem Thema sehr intensiv auseinandergesetzt, einer der wenigen Orte in Europa, wo man das überhaupt kann — die ganz technischen Seiten, aber auch die gesellschaftlichen Fragen der Nachhaltigkeit. Das ist eben das Merkmal der Nachhaltigkeit, dass es alles betrifft — und uns alle. Zwei Dinge sind sehr spannend: Sie werden mit ganz vielen jungen Menschen zu tun haben, wenn sie über Nachhaltigkeit sprechen, denn das Thema spricht die junge Generation überdurchschnittlich stark an. Das Zweite ist: Nachhaltigkeit ist ein aktives Thema. Alle Menschen, mit denen Sie über Nachhaltigkeit sprechen, wollen etwas tun. Sie wollen wirklich wissen: Was kann ICH tun, was kann ich JETZT tun? Und diese beiden Dinge müssen wir in den Museen leben. Man könnte zum Beispiel, als Idee, neben dem normalen ein »grünes Ticket« anbieten und der Besucher oder die Besucherin verpflichtet durch den Kauf das Museum, damit eine nachhaltige Ausstellung zu finanzieren.

So hat man dem Publikum einen Hebel in die Hand gegeben und sagt, ihr könnt euch entscheiden, was ihr wollt! Ich finde, das sind gute Wege, da kann man viele Dinge ausprobieren, wie das Mu­seum Ludwig es dieses Jahr mit der Ausstellung »Grüne Moderne« macht. Wir sind nicht das Schlusslicht, sondern wir sind hier in Köln schon sehr aktiv unterwegs. In der Bildenden Kunst gibt es ein enges Zusammenspiel zwischen Institutionen, Freier Szene und kommerziellen Galerien, also dem Kölner Kunstmarkt mit seiner langen Tradition. Funktioniert das Ihrer Meinung nach ganz gut, wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Da habe ich noch nicht alles vollständig durchdrungen. Dieser gesamte Kosmos der Kunstszene, von Kunsthochschulen über günstige Ateliers oder auch eine Art von Förderung für junge Galerien, öffentliche Ausstellungsräume, Sammlungen ist wirklich ein Gesamtkomplex, und es ist schwierig, da ein Mikadostäbchen rauszuziehen. Da werde ich noch tiefer einsteigen und möchte nicht vorschnell Schlüsse ziehen.

Wo es gerade mal wieder brennt, sind die fehlenden Produktionsräume, ob Künstlerateliers oder Proberäume für Musiker. Was tun?

Das stimmt. Die werden wir neu schaffen, das wird eines meiner Ziele sein für 2022. Die Zahl kann ich noch nicht genau sagen, ­vielleicht die nächsten zwei Jahre zusätzliche 100 Atelierplätze, in dieser Größenordnung.

Wie wollen Sie es machen, bei den Mietpreisen in Köln?

Die einzige Frage, die sich im Moment für mich stellt, ist: Wie weit muss man denn mit der Kunst rausgehen aus der Stadt? Bei den Quadratmeterpreisen, die jetzt in der Innenstadt gefordert  werden, können wir in unseren Kulturetats gar nicht mithalten. Deswegen werden wir hier immer Raum verlieren und müssen uns den an der Peripherie ­wieder holen. Das finde ich schade, weil die Kunst für mich einfach nicht an die Peripherie gehört. Aber wir werden Orte aktivieren, das kann ich Ihnen jetzt hier versprechen.

Es gibt möglicherweise auch neue Modelle, ich denke etwa an all die leerstehenden Ladenlokale, die durch Corona zahlreicher geworden sind — in der Innenstadt.

Natürlich! Wir erproben das ja gerade mit der Stadtbibliothek und mit dem Stadtmuseum, mit dem wir mitten in die Fußgängerzone gehen. Mir gefällt das super und ich kann mir vorstellen, noch viel mehr von diesen Gebäuden zu aktivieren. Es muss nicht immer alles auf hundert Jahre hinaus sein. Die Innenstadt ist teilweise nachts ausgestorben, es macht null Spaß,  sich da aufzuhalten. Da könnte die Kultur wirklich Wunder tun. Diese Leerstellen müssen wir nutzen und über das geplante professionelle Kulturraummanagement an die Kulturschaffenden vermitteln. Das wird nicht morgen passieren und vielleicht noch nicht in diesem Jahr. Aber das sollte das Ziel sein.

Stefan Charles
wurde 1967 als ­Stefan Wittwer in Kerzers in der Schweiz geboren. Charles arbeitete als Creative Direktor der EMI Music in Berlin, als Geschäftsführer im Zürcher Rohstofflager und als Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste. Von 2011 bis 2020 war er kaufmännischer ­Direktor am Kunstmuseum Basel; von 2017 bis 2020 Abteilungsleiter Kultur beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Am 1. Oktober trat er sein Amt als Beigeordneter für Kunst und Kultur der Stadt Köln an.