Wo die Vielfalt lebt

Vor 50 Jahren wurden in Köln die ersten Migrant*innenvereine gegründet. Mittlerweile gibt es 41 Interkulturelle Zentren, die einen wichtigen Beitrag zu einer offenen Stadtgesellschaft leisten. Wir haben zwei von ihnen besucht

Die U-Bahn fährt in den Bahnhof ein. »Köln-Chorweiler« steht an den grauen Wänden. Draußen dämmert es, die vielen kleinen Lichter in den Fenstern der Hochhäuser mischen sich mit der Abendsonne. Auch im zweiten Stock des Rathauses aus den 70er Jahren brennt noch Licht; Gesang schallt aus einem kleinen Raum, der zum Bürgerzentrum Chorweiler gehört. Darin sitzen um die zwanzig Senior*innen, die gemeinsam türkische Lieder singen. Im vorderen Teil steht eine junge Frau mit einer Geige in der Hand, neben ihr ein älterer Herr mit einer türkischen Laute.

Am Chor teilzunehmen ist ein kostenloses Angebot des Deutsch-Türkischen Vereins Köln (DTVK), der seit fünfzig Jahren existiert und damit eins der ältesten Migrant*innenzentren der Stadt ist. Zudem ist der DTVK anerkanntes »Interkulturelles Zentrum« der Stadt Köln. Diese Förderung gibt es seit 1979 und soll zum interkulturellen Zusammenleben, zur aktiven Teilnahme in allen gesellschaftlichen Bereichen und zum Abbau von Vorurteilen in der Stadt beitragen. Der DTVK bietet neben dem Chor verschiedene Angebote für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, etwa Gesprächskreise für Frauen, Computerkurse, Vätertreffs, Integrationskurse, Selbsthilfegruppen und eine Theatertruppe.

Yilmaz Tekyıldırım besucht den Chor seit sechs Jahren. Er lebt seit 47 Jahren in Deutschland, hat schon in den Ford-Werken, bei Kaufhof und in Restaurants gearbeitet, heute ist er Rentner und verkauft nebenher Obst und Gemüse auf einem Kölner Wochenmarkt. »Meine Seele möchte musizieren«, sagt Tekyıldırım. »Das ist wie ein natürliches Antibiotikum, ich vergesse alle meine Sorgen, meine Probleme, meinen Stress.« Teilnehmerin Yadigar Arslan sagt: »Musik beruhigt mich. Ich komme unter Menschen und lerne etwas Neues.« Arslan ist erst zum vierten Mal dabei und hat vorher nie in einem Chor gesungen, weil sie keine Zeit dafür hatte, denn bis Ende des vergangenen Jahres war sie Senior*innenvertreterin von Chorweiler und ehrenamtlich Leiterin der Seniorinnengruppe im DTVK. Nun hat sie mehr Zeit und möchte sich etwas Gutes tun.

Wie haben die Senior*innen die Corona-Zeit erlebt? »Ziemlich langweilig!«, sagt Yilmaz Tekyıldırım. Die Gruppe lacht. Denn der Chor musste ausfallen — Singen galt schon früh als Pandemietreiber, viele weitere Angebote des Interkulturellen Zentrums konnten wegen der kleinen Räume nicht stattfinden. Dennoch: Die Gruppe machte aus der Not eine Tugend. Mustafa Türkay Meçilioğlu, der den Chor seit sechs Jahren leitet und ein Lied für das nächste Konzert komponiert hat, nahm sich selbst beim Musizieren auf und schickte die Videos in die Messenger-Gruppe des Chors. »Ich habe allen gesagt: Hört euch das gut an, nächste Woche proben wir dann hoffentlich wieder zusammen«, so der Chorleiter.

Auch die Selbstorganisation der Gruppe über das Inter­net ist kein Zufall, viele der Chor-Mitglieder besuchen ebenso den Smartphone-Kurs des DTVK. Während des Shutdowns war es so möglich, Kurse weiter online stattfinden zu lassen, dennoch hatten manche Senior*innen sich isoliert. »Wir haben alle miteinander regelmäßig telefoniert, außerdem kranke Mitglieder zum Arzt begleitet und bei den Einkäufen geholfen«, sagt Teilnehmerin Yadigar Arslan. »Bei schönem Wetter haben wir uns weiterhin draußen getroffen. Jetzt gehen wir wieder zusammen wandern und ins Theater, solange die Situation es zulässt.«  Und Yilmaz Tekyıldırım stellt fest: »Als wir nach Deutschland gekommen sind, gab es solche Kurse nicht. Wir haben die Sprache so gelernt, von Freunden. Das war für uns nicht leicht, wir waren quasi sprachlos.« Die ersten Migrant*­innenvereine wurden vornehmlich von den sogenannten Gastarbeiter*innen zum Erlernen des Deutschen, aber auch zur Pflege ihrer Heimatkultur und Muttersprache gegründet.

»Meine Seele möchte musizieren. Singen ist wie ein natürliches Antibiotikum«

Nun, 60 Jahre nach Abschluss des Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommens, sei die Situation eine andere, sagt Britta Hollmann. Sie arbeitet beim Kommunalen Integrationszentrum Köln (KI), das die Interkulturellen Zentren der Stadt koordiniert und unterstützt. Es sei ein stetiger Wandel gewesen, so Hollmann: Während der 80er Jahre sei deutlich geworden, dass die Menschen, die man zum Arbeiten nach Deutschland geholt hatte, bleiben würden. Aus der Anerkennung dieser Tatsache resultierte eine Unterstützung jener Vereine.

In den 90er Jahren sei der Gedanke der Partizipation stärker aufgekommen, auch bei der Stadtverwaltung, so Hollmann. »Die Interkulturellen Zentren sind nicht nur nette Kulturcafé-Treffen, sondern dort wird vor allem inhaltliche soziale Arbeit für die Stadtgesellschaft geleistet.«. Die Idee der Zentren habe sich mit den Jahren verändert, genauso wie sich die Integrationsgesellschaft verändert habe. »Das bedingt sich gegenseitig ein Stück weit«, so Hollmann. Heute sei der »Empowermentgedanke« vorherrschend, es gehe viel mehr darum, sich einzumischen. Das werde auch daran deutlich, dass viele Migrant*innen-Organisationen Vereine in Köln gründen und versuchen würden, Interkulturelles Zentrum zu werden. »Gerade für Schwarze Menschen und People of Color bilden die Orte wichtige Rückzugsräume und Räume der Community-­Bildung«, so Hollmann.

Von kleinen, ehrenamtlich geführten Vereinen bis zu hochprofessionellen Organisationen reichen die 41 Interkulturellen Zentren in Köln, sie alle besitzen einen anderen Schwerpunkt und spiegeln so die Vielfalt der Kulturen und Sprachen wider, aber auch die Vielfalt der sozialen Arbeit. Die reicht von der Deutsch-Sprachförderung über mehrsprachige Sozialberatung in Form von Gewaltschutz für Frauen bis zu professioneller Schuldner- oder Arbeits­losenberatung — vor 30 Jahren ein Novum in Deutschland. Dabei richtet sich das Angebot immer nach der Nachfrage im Viertel.

»Wir waren die erste Generation, wir hatten Probleme mit der Schule, mit dem Ausfüllen von Formularen«

Mit der Anerkennung zum Interkulturellen Zentrum gehen sowohl Vorteile als auch Pflichten einher: Zum einen gibt es ein zentrumsübergreifendes Budget von jährlich 10.000 Euro für Öffentlichkeitsarbeit und Fortbildungen, etwa zum E-Learning. Zum anderen erhalten die Zentren Jahresfestbeträge, die sich nach der Größe des Zentrums richten und von 5.100 bis zu 22.700 Euro reichen. Das aber reiche nicht mal für eine Vollzeitstelle, sagt Britta Hollmann vom Kommunalen Integrationszentrum Köln. Andererseits könnten die Zentren aber, anders als bei Projektförderungen sonst, selbst entscheiden, wofür sie das Geld ausgeben. Das ermögliche Flexibilität, sagt Hollmann. Zudem erleichtere die Anerkennung die Vernetzung untereinander und auch die weitere Förderung durch andere Geldgeber. Von den Zentren wird im Gegenzug erwartet, gemeinnützig und vornehmlich in Köln tätig zu sein, bestimmte Leistungen anzubieten. Seit Neuestem sollen die Angebote auch fortlaufend evaluiert werden, auch in ehrenamtlich organisierten Interkulturellen Zentren.

Eben solch ein Zentrum ist das Deutsch-Griechische Kulturzentrum (DGKZ) in Porz. Das kleine, verwinkelte Einfamilienhaus liegt an einer vielbefahrenen Straße und der KVB-Linie 7 mitten im Porzer Stadtzentrum, gegenüber einer alten Arbeitersiedlung. Ans Haus grenzt der vereinseigene Garten mit mehreren Tischen, einer Pergola und einem Grill. Evangelia Loutsopoulou öffnet die Tür, sie ist Ehrenamtskoordinatorin des DGKZ und eine der Sprecher*innen der Interkulturellen Zentren. Ihr Vater Kosmas Loutsopoulos ist Vereinsvorsitzender und sitzt in der Wohnküche. Auch er ging 1965, mit 18 Jahren, als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland, ein Jahr später schon kam er nach Porz und arbeitete 36 Jahre bei einer Elektronikfirma im Schichtdienst.

1985 gründete Kosmas Loutsopoulos das DGKZ mit dem Ziel der Sprach- und Kulturpflege, aber auch der gegenseitigen Unterstützung. »Wir waren quasi die erste Generation, wir hatten Probleme mit der Schule, mit Übersetzungen, mit dem Ausfüllen von Formularen. Damals gab es viele Griechischstämmige in Porz.« Evangelia Loutsopoulou ergänzt: »Fast alle Interkulturellen Zentren haben die gleiche Geschichte, es hat klein angefangen und mit der Zeit wurde das Angebot breiter.« Sie ist nicht nur Koordinatorin und Sprecherin, sondern selbst als Frei­willige tätig, übersetzt bei Praxisbesuchen oder begleitet bei Einkäufen. Dabei hilft ihr, dass sie selbst auf eine deutsch-griechische Schule im Belgischen Viertel gegangen ist und fünfzehn Jahre in Athen gelebt hat. Vor drei Jahren ist sie für einen Jura-Master zurück nach Deutschland gekommen.

Doch gerade für die kleinen und mittleren Interkulturellen Zentren, die wie das DGKZ häufig ehrenamtlich organisiert sind, wird es immer schwerer: Zwar sei es toll, dass die Stadt die Arbeit unterstütze, so Loutsopoulou, doch langsam werde das Budget knapp. »Wir tragen viel bei zur Integration und politischen Teilhabe. Das machen wir sehr gerne, aber damit es diese Angebote gibt, muss auch etwas reinkommen.« Im Gegensatz dazu stünden die strengen Bedingungen für die Förderung, also etwa das feste Beratungsangebot sowie der Nachweis der Qualität dieses Services. »Wir müssen also ein Beratungskonzept erstellen. Das ist schon sehr professionell für so wenig Geld und ein Ehrenamt.« So laste noch mehr Arbeit und Bürokratie auf den Schultern der Freiwilligen. Eine Erhöhung der Förderung würde helfen — wann die kommt, ist fraglich und Sache der Politik.

»Die Pandemie hat nicht nur die Kulturveranstaltungen einschlafen lassen, auch viele Beratungsangebote mussten pausieren«

Die Beratungen bietet das Deutsch-Griechische Kulturzentrum viermal die Woche an. Da sei alles dabei, und jeden Tag etwas los, erzählt Kosmas Loutsopoulos lächelnd, vom Buchen von Flugreisen bis zum Kindergeldantrag, weiterhin Schulungen gegen Rassismus, Digitalkurse, Hausaufgabenbetreuung, eine Selbsthilfegruppe und dazu außerplanmäßige Kultur- und Informationsveranstaltungen. »Eigentlich hätte heute eine Podiumsdiskussion zum Thema Altersarmut bei Menschen mit Migrationshintergrund stattfinden sollen, in Kooperation mit dem alevitischen Kulturverein, der auch in Porz beheimatet ist«, sagt Evangelia Loutsopoulou. Die musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Zur Bundestagswahl etwa hatte das DGKZ eine Podiumsdiskussion mit Politiker*innen aus Porz organisiert. So konnten die Menschen niederschwellig die Kandidat*innen kennenlernen.

»Der Verein wurde von Griechisch- und Deutschstämmigen gegründet«, erinnert sich Kosmas Loutsopoulos. »Aber durch die Transformation zum Interkulturellen Zentrum hat sich das verändert. Nun haben wir eigentlich alle Herkunftsländer hier vertreten.« Die beiden führen durch das Haus: Im Erdgeschoss ein kleines Café, das als Treffpunkt genutzt wird. »Vor Corona hatten wir auch jeden Freitag den Grill an und haben Souvlaki gemacht«, sagt Evangelia Loutsopoulou. Sie betreten den Garten. »Einmal im Jahr gab es ein Sommerfest und zu Karneval eine Nubbelverbrennung.«

Doch die Pandemie hat nicht nur die Kulturveranstaltungen einschlafen lassen, auch viele Beratungsangebote mussten zeitweise pausieren. Finanziell zumindest werde dieses Zentrum durch die Freiwilligenarbeit und die Finan­­zierung aufgefangen, so Loutsopoulou, doch gerade als Kulturorte und Treffpunkte seien die Interkulturellen Zentren durch die Pandemie bedroht. »Vor zwei Jahren war der Ansturm aufs Zentrum viel größer, aber mittlerweile ist es auch um einiges besser als im ersten Pandemiejahr«, so Loutsopoulou. Der Wunsch und die Hoffnung, dass die Interkulturellen Zentren bald wieder so lebendige Orte werden wie das halbe Jahrhundert zuvor, sind groß.