Mutter und Tochter: Zum Verwechseln ähnlich

Petite Maman

Céline Sciammas magischer Realismus wirkt generationenübergreifend

Kinder haben in der Pandemie den schwersten Stand, ihre Sicht der Dinge wurde bislang sträflich vernachlässigt. Da kommt ein aufrüttelnder Familienfilm wie Céline Sciammas »Petite Maman — Als wir Kinder waren«, der sich ganz dem magischen Realismus verpflichtet und die Welt konsequent aus Kinderaugen betrachtet, zur rechten Zeit. Gedreht während des ersten Lockdowns in Frankreich, besinnt sich Sciamma, die mit ihrem letzten mitreißenden und hoch ambitionierten Film »Porträt einer jungen Frau in Flammen« international für Furore sorgte, auf die Zeit vor dem Durchbruch als gefeierte Arthouse-Regisseurin. Mit Coming-of-Age-Filmen wie »Water Lilies«, »Mädchenbande« und dem großartigen »Tomboy« bewies sie bereits mehrfach, dass sie das komplexe Innenleben von Kindern, insbesondere Mädchen wie kaum eine zweite auf die Leinwand zu bannen weiß.

Der fünfte Spielfilm Sciammas, der auf der letztjährigen Berlinale Premiere feierte, beginnt nun an einem Ort, der durch die Pandemie verstärkt mit Leid und dem Nicht-Abschied-nehmen-Können von den Liebsten verbunden ist — in einem Altenheim. Die achtjährige Nelly (Gabrielle Sanz) geht durch die Zimmer der alten Frauen und sagt ihnen »Auf Wiedersehen«. Nur im letzten Zimmer bleibt sie stumm. Das Bett ist leer. Nellys Mutter Marion (Nina Meurisse) räumt ein paar letzte Sachen zusammen, ihre Tochter möchte Omas Stock als Andenken behalten. Die Mutter erlaubt es, kehrt Nelly den Rücken zu und blickt aus dem Fenster. In wenigen Minuten eröffnet Sciamma den Kinozuschauer*innen die komplexe Welt einer Großmutter-Mutter-Tochter-Beziehung, die durch den Verlust neue Fragen aufwirft. Gemeinsam fahren sie zum Haus der Großmutter.

Sie blättern in alten Schulheften der Mutter, und Marion erzählt ihrer Tochter von ihren damaligen nächtlichen Ängsten. Nelly wiederum gesteht ihr, wie traurig sie sei, dass sie sich nicht richtig von der geliebten Oma habe verabschieden können. Doch am übernächsten Tag fährt Nellys zu Depressionen neigende Mutter überraschend in die Stadt zurück und überlässt das restliche Ausräumen des Hauses der Tochter und deren Vater. Als Nelly im Wald nach der Hütte sucht, die ihre Mutter dort als Kind gebaut hat, trifft sie auf ein Mädchen, das ihr zum Verwechseln ähnlich sieht (und übrigens von Gabrielles Sanz’ Zwillingsschwester Joséphine gespielt wird). Es braucht keine besonderen Twists, um die Erklärung dafür zu liefern. Einzig die Bilder von Sciammas Stammkamerafrau Claire Mathon, die bewusst eingesetzte Waldatmospäre und der großartige Schnitt von Julien Lacheray lassen erkennen, dass hier offensichtlich ein Mädchen auf seine eigene Mutter als Kind trifft. Die beiden verbringen fortan viel Zeit miteinander und versetzen die Zuschauer*innen in die eigene Kindheit zurück, wie es sonst wohl nur den Werken von Hayao Miyazaki aus dem Studio Ghibli gelingt. Wieviel Leid und gegenseitiges Unverständnis würde Familien erspart, hätten Kinder tatsächlich die Möglichkeit, ihre Eltern persönlich als Kinder zu erleben, ihre tiefsten Ängste aus dieser Zeit kennenzulernen? Denn wie sagt Marion junior später in einem Kriminalspiel: »Oft schweigt man, ohne etwas verbergen zu wollen. Man hat nur niemanden, der zuhört.« Typisch für Sciammas sparsame Dialogzeilen.

Gegen Ende des aus der Zeit gefallenen Filmmärchens fahren die beiden Mädchen mit einem Boot hinaus zu einer geheimnisvollen Pyramide, die auf dem Wasser schwimmt. Dazu ertönt das einzige Musikstück in »Petite Maman«, eine von einem Kinderchor gesungene Dreamwave-Nummer, für die Stammkomponist Jean-Bapitste de Laubier verantwortlich zeichnet — mit der wunderschönen Songzeile »Der Traum mit dir ein Kind zu sein.«  Wer sich diesem filmischen Wachtraum der leisen Töne öffnet, wird auch seine Eltern fortan mit anderen Augen betrachten.

F 2021, R: Céline Sciamma, D: Gabrielle und Joséphine Sanz, Nina Meurisse, 72 Min., Start: 17.3.