»Ghosts«: Dystopisches Bild der Türkei

Freunde und Feinde des Glücks

»Tüpisch Türkisch« verhandelt eine große Bandbreite gesellschaftlicher Themen

Istanbul an einem Tag im November 2020. Der Strom in der Stadt ist ausgefallen, auf den Straßen herrscht latent aggressive Stimmung. In ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm »Ghosts« entwickelt Regisseurin Azra Deniz Okyay ein dystopisches Bild der heutigen ­Türkei. Sie verhandelt darin nicht weniger als die Themen Korruption, Arbeitslosigkeit, Flüchtlingspolitik, Polizeigewalt, Gentrifizierung. Über die vier Protagonist*innen ihres Dramas — eine Tänzerin, eine Aktivistin, ein Krimineller und die Mutter eines Inhaftierten — entfaltet sie ein Bild des allgegenwärtigen Aufbruchs in Richtung »Yeni Türkiye«. Doch es bleibt offen, wie diese politisch propagierte »Neue Türkei« aussehen wird und wer auf der Strecke bleibt. Filmemacherin Okyay erhielt für »Ghosts« 2020 den Preis der Filmkritik in Venedig und gleich vier Filmpreise in Antalya.

Auch für das 16. »Tüpisch Türkisch«-Festival hat sich Festi­valmacher (und Stadtrevue-Autor) Amin Farzanefar, auf internationalen Filmfestivals umgesehen. Fast alle gezeigten Beiträge haben reno­mmierte Auszeichnungen erhalten. So auch »She who saw the deep« von Pelin Tan und Anton Vidokle. In 38 experimentellen und faszinierenden Minuten versucht sich ein rein weiblicher Cast aus Theaterschauspielerinnen am Gilgamesch-Epos, dem ältesten literarischen Werk der Menschheit. Die »Sharjah Film Platform« der Vereinigten ­Arabischen Emirate versah den Kurzfilm mit einem Förderpreis. »Mit Preisen versehene Filme werden sehr gut besucht«, erklärt Farzanefar die Schwerpunktsetzung. Trotzdem: Experimentelle Arbeiten hätten es beim Publikum in der Regel schwerer, daran würden auch Auszeichnungen nur bedingt etwas ändern.

»Interessanterweise sind die Klassiker des türkischen Kinos keine Publikumsmagnete«, so Farzanefar, »dazu höre ich oft von türkischstämmigen Zuschauer*­innen, dass man die Filme doch bereits aus dem Fernsehen kenne. Mir bleibt dann nur die Entgegnung, dass wir sie auf der großen Leinwand zeigen — oft in aufwändig restaurierten Fassungen, und ein ganz anderes Filmerlebnis bieten!« Weil dieses Argument aber offensichtlich nicht verfange und auch das nicht-türkischstämmige Publikum wenig Interesse zeige, seien die Klassiker mit der Zeit wieder aus dem Programm genommen worden.

Die Neugier des Publikums wecken hingegen sollte »Les enfants terribles« des türkischen Filmemachers Ahmet Necdet Çupur. Die Feinde des Glücks, das zeigt diese herausragende, weil sehr offene und unverstellte Dokumentation, sind nicht selten die eigenen Familienangehörigen, die ihren Wertekanon über alles stellen, insbesondere über die Sehnsüchte der Jüngeren nach einem selbstbestimmten Leben. Zeynep träumt von einem Studium und ihr Bruder Mahmut vom Ende seiner arrangierten Ehe. Die Reaktionen der Eltern und des Umfelds fallen im Osten der Türkei nur unwesentlich anders aus als in Niederbayern — oder in Nippes. Auch wenn es nicht in jeder Familie eine Tante gibt, die einem auf den Kopf zusagt, dass es besser wäre, tot zu sein, als die Familienehre zu ramponieren. Generationskämpfe haben eindeutig eine universelle Qualität, da passt es, dass »Les Enfants Terrible« auf dem Filmfestival in Sarajevo den Menschenrechtspreis gewonnen hat.  

Für »Tüpisch Türkisch« müsse jedes Jahr sehr stark zielgruppenorientiert geworben werden, erklärt Amin Farzanefar: «Wir haben über die letzten 16 Jahre gelernt, dass die 60.000 Mitglieder der türkischstämmigen Community in Köln nicht von alleine zum Festival strömen. Wenn wir beispielsweise queere oder inklusive Filme zeigen, dann müssen wir in die entsprechenden Netzwerke gehen.« Zwar habe sich ein vielfältiges und treues Stammpublikum gebildet, vor allem kurdische Beiträge seien nahezu Selbstläufer, doch für neuere Themen wie Gentrifizierung müsse anders geworben werden.

Geradezu klassisch in Aufbau und Themenwahl ist das Drama »Brother’s Keeper«. Regisseur Ferit Karahan realisiert seine Erinnerungen an die eigene Internatszeit als grandiose Groteske: Eingeschneit in einem Jungeninternat im ostanatolischen Gebirge, werden kurdische Schüler unterrichtet und auf spätere Führungsarbeiten vorbereitet. Das pädagogische Programm sieht unbarmherzigen Drill und Härte vor. Wer von den Kindern nicht spurt, wird mit kalten Duschen schikaniert — bei Minusgraden und ausgefallener Heizung. Als ein Junge erkrankt, zeigt sich das rigide System von seiner sinnlosen Seite: Kein Lehrer und auch nicht die Schulleitung sind bereit Verantwortung zu übernehmen, die Versorgung des Kranken scheitert am fehlenden Handyempfang, ein Krankentransport an fehlenden Schneeketten. Wie in jedem autoritären System wird die Schuldfrage für die immer misslicher werdende Lage von oben nach unten durchgereicht.

Die Idee zu einem Festival mit türkischen Filmen — und auch zu dem von ihm verantworteten Iranischen Film Festival Köln — kam Amin Farzanefar, als der Kinokanon von Antonioni über Fellini bis Eisenstein in den kommunalen Kinos noch ein Dach über dem Kopf hatte. In Köln unter anderem in der Cinemathek, der Vorgängerin des Filmforums: »Ich fragte mich, wie man den Blick auch auf die peripheren Filmkulturen lenken könnte.« Eine mögliche Antwort geben nun zum wiederholten Mal die beeindruckenden Filme des »Tüpisch Türkisch«-Festivals.

16. »Tüpisch Türkisch«, 25.3.–27.3., Filmforum im Museum Ludwig und digital,
alle Infos unter tuepisch-tuerkisch.de